Fragen an einen schreibenden Lektor Wie viel Anarchie muss sein, Herr Bollmann?

Immer freitags hier ein Autorengespräch: heute mit C.H.Beck-Lektor Stefan Bollmann über sein Buch „Monte Verità“ (dva):

Stefan Bollmann, geboren 1958, studierte unter anderem Germanistik, Theaterwissenschaften, Geschichte und Philosophie. Er promovierte mit einer Arbeit über Thomas Mann, bevor er als Lektor und Programmleiter für verschiedene Verlage tätig war. Seit 2004 ist er auch Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher.  Gestern erst berichteten wir über die Buchvorstellung seines neuesten Werkes Monte Verità (dva) in der Schwabinger Buchhandlung Lehmkuhl, die zahlreiche Besucher begeisterte. Anlass für uns,  den schreibenden Lektor mal genauer zu fragen:

BuchMarkt: Herr Bollmann, worum geht es in Ihrem Buch?

Stefan Bollmann (links) mit Buchhändler Michael Lemling bei seiner Buchvorstellung in der Buchhandlung Lehmkuhl in München Schwabing

Stefan Bollmann: Auf eine Formel gebracht: Nichts wie weg von hier. Das 20. Jahrhundert ist noch kein Jahr alt, da macht sich eine Gruppe junger Aussteiger aus ganz Europa von München aus nach Ascona an den Lago Maggiore auf. Sie sind so etwas wie die Ur-Hippies: Sie ernähren sich vegan, tanzen, propagieren die freie Liebe und verehren das Licht des Südens. Schnell verbreitet sich ihr Ruf nach Berlin, München, Genf, St. Petersburg und sogar bis San Francisco. Immer mehr Literaten, Künstler, arme und reiche Bohemiens folgen ihnen: Erich Mühsam, Hermann Hesse, Käthe Kruse, Marianne von Werefikin und viele andere. Ich erzähle die Geschichte dieser Aussteiger und wie stark ihre Ideen und ihre Rebellion gegen die bürgerliche Welt noch bis in die Sechzigerjahre, ja bis heute nachwirken.

Wie entstand die Idee dazu?

Ich habe meinem Buch einen Satz des amerikanischen Romanciers T.C.Boyle vorangestellt, den ich sowieso sehr bewundere: „Und da waren sie, und lebten diese Geschichte, ließen sie Wirklichkeit werden in der Moderne, die nie so modern war, dass man nicht einen Schritt zurück tun konnte.“

„Mich hat interessiert, wie dieser Schritt zurück, der häufig pauschal als ein ‚Zurück zur Natur‘ bezeichnet wird, konkret aussieht“

Durch Klick zum Buch

Kann man ohne Geld leben? Was heißt richtige Ernährung eigentlich? Ist Selbstversorgung möglich? Wie viel Anarchie muss sein?  Kann Selbstverwirklichung  womöglich auch schaden? Und welche Rolle spielen eigentlich die Frauen bei all dem? Viele Passagen meines Buches sind aus der Perspektive einer Frau erzählt.  Außerdem ist schon die Geschichte des Monte Verita selbst großartig. Es gibt dabei so viel und so viel Interessantes zu erzählen.

Mit welchem Argument kann der Buchhhändler das Buch am besten verkaufen?

Kann ein guter Buchhändler nicht jedem jedes Buch verkaufen, wenn er nur will? Das Argument in diesem Fall könnte sein: Du musst, du kannst dein Leben ändern. Hier steht drin, wie man das macht.

Welche Leserschaft wird angesprochen?

Naheliegend: jung gebliebene Alt-68er. Aber auch alle, die schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, aus der Tretmühle der Leistungsgesellschaft auszusteigen, und sei es nur für die Dauer der Lektüre dieses Buches.

In welchem literarischen Umfeld sehen Sie Ihr Buch in der Buchhandlung?

Am liebsten an der Kasse. Ansonsten: Gerne bei den Romanen. Oder bei der Schweizer Kantonsliteratur.

Um die Autoren besser zu verstehen, fragen wir gerne nach der persönlichen Lebensphilosophie – wie sieht die bei Ihnen aus?

Der Mensch hat zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase und einen Mund, ein Gehirn, einen Nacken, eine Schulter, zwei Arme und zwei Hände, eine Brust, ein Herz, eine Lunge, einen Bauch, einen Nabel, sechs bis sieben Meter Darm, einen Po, einen Penis oder eine Vagina, zwei Beine, zwei Knie und zwei Füße sowie ganz viel Haut, Haare an vielen Stellen und womöglich eine Seele, und es kommt im Leben darauf an, alle diese wunderbaren Organe und Gliedmaßen in einer Weise (inter)agieren zu lassen, dass daraus ein ganz eigenes, individuelles Leben entsteht, gemäß den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten.

Wie sind Sie als Lektor zum Schreiben gekommen?

Die Frage, die sich mir im Alltag stellt, ist eher, wie und wann ich zum Schreiben komme, mit einem Hauptberuf als Lektor sowie einer Familie mit drei Söhnen.  Ich komme es, seitdem ich nicht mehr umziehe, nicht mehr den Job wechsle, mich von romantischen Vorstellungen wie der verabschiedet habe, man bräuchte einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Tageszeit zum Schreiben, seitdem ich einfach überall und jederzeit schreibe, wann und wie sich die Gelegenheit eben bietet, und ich einen beinahe schwerelosen Laptop habe, dem es genauso wie mir herzlich egal ist, wo er sich gerade beim Tippen befindet, ob im Zug, in der Küche, im Bett oder gar am Schreibtisch.

Darüber hinaus:  Schreiben ist mein Präventivkampf gegen die Altersarmut. Jedenfalls wäre es schön, wenn dem so wäre. Aber die Honorare aus den Buchverkäufen gehen letztlich direkt für die Ausbildung meiner drei Kinder drauf. München ist teuer und Lektoren sind keine Spitzenverdiener. Außerdem ist Schreiben gut fürs seelische Gleichgewicht. Dieses Buch jedenfalls war das perfekte Anti-Aging für mich. Und zuletzt: Bücher schreiben ist etwas, das man noch weiterführen kann, wenn man die Altersgrenze für Werktätige reißt. Also doch ein gutes Mittel gegen Altersarmut.

Und privat? Was lesen Sie da vorzugsweise?

Da meine Zeit begrenzt ist (siehe oben), geht meine Lesezeit hauptsächlich fürs Recherchieren eigener Buchprojekte drauf. Aber das kann natürlich hochinteressant sein. Für den Monte Verità waren es u.a. Erich Mühsam, Peter Kropotkin, Fanny zu Reventlow.  Wäre ich ansonsten nicht unbedingt darauf gekommen.

Zwei Bücher, die ich in diesem Herbst gelesen habe und die ich sehr empfehlen kann: Uwe Timm, Ikarien und Robert Menasse, Die Hauptstadt. Von beiden Schriftstellern können auch Sachbuchautoren viel lernen.

Welche Frage, die wir nicht gestellt haben, hätten Sie dennoch gerne beantwortet?

Keine Frage, aber eine Antwort. Nach jeder Veranstaltung, ob über lesende Frauen, Goethe oder nun den Monte Verita blickt man in dankbare Gesichter, häufig von Frauen. Das allein ist schon eine Riesenbelohnung. Es gibt in unseren nachreligiösen Zeiten, in denen die Menschen sich häufig im Einerlei des Alltagskampfes aufreiben, ein großes Bedürfnis nach Sinn, nach eigenem Leben, nach künstlerischer und spiritueller Entfaltung. Dort ein paar Vorschläge zu machen, die nicht autorität, dogmatisch oder ideologisch sind, mehr will ich als Buchautor gar nicht.

 

 

 

 

 

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