Siegfried Reusch über 25 Jahre "der blaue Reiter" „Gute Ideen reichen nicht aus, man muss es auch verstehen, diese bekannt zu machen“

Sigfried Reusch

Die philosophische Zeitschrift der blaue Reiter feiert in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum. Wir sprachen dazu mit Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur und Mitherausgeber des Journals.

BuchMarkt: Wie kam es vor 25 Jahren zum Journal für Philosophie der blaue reiter?

Dr. Siegfried Reusch:Was ist Philosophie?“ Mit diesem Titel erschien 1995 die erste Ausgabe des Journals für Philosophie der blaue reiter. Studenten der Universität Ulm hatten sich zusammengefunden, um die erste für ein breiteres Publikum verständliche Philosophiezeitschrift deutscher Sprache zu gestalten. Da die angehenden Mediziner und Naturwissenschaftler in ihrem Begleitstudium der Philosophie am dortigen Humboldt-Studienzentrum die komplizierte Ausdrucksweise der Berufsphilosophen kennengelernt hatten, wurden alle Texte von den Redakteuren mit Blick auf Verständlichkeit für Nicht-Berufs-Philosophen überarbeitet, Fachbegriffe wie Transzendenz und transzendental in eigens eingeführten Erläuterungskästen erklärt sowie altgriechische und lateinische Zitate konsequent übersetzt. Ziel war es, ein Journal zur Vermittlung der Freude am Denken und der Nutzbarmachung des großen Wissensschatzes der Philosophie für die Gegenwart zu gestalten, in dem anspruchsvolle Kunst die denkerische Auseinandersetzung mit dem Menschen und dem Leben unterstützt. Dieses Konzept fand schnell Unterstützung durch bekannte Philosophen wie Rüdiger Safranski, Odo Marquardt, Gernot Böhme und Peter Sloterdijk, die verständliche Texte beisteuerten. Prominente wie Klaus Maria Brandauer, Helmut Schmidt und Reinhold Messner unterstützten das Vorhaben mit Interviews und Künstler wie Wolfgang Mattheuer, László Fehér und Silvia Bächli übernahmen die Gestaltung.

Binnen kurzer Zeit avancierte die verständlichste Philosophiezeitschrift deutscher Sprache auch zur auflagenstärksten. Schul- und ideologiefreie Rückführung komplexer Fragestellungen auf philosophische Grundfragen, das tiefgreifende Abwägen von Argumenten sowie die Vermittlung der Lösungsansätze der unterschiedlichsten Philosophen und philosophischen Theorien waren und sind auch nach 25 Jahren das Ziel. Da sind zum Einen die drängenden ethischen Fragen um die Anwendungen der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften wie die Debatten um Gentechnik und künstliche Intelligenz und zum Anderen soziale und politische Fragen. Begriffe wie „Heimat“, „Seele“ und „Verantwortung“ müssen ebenso neu bedacht werden wie das Verhältnis zum Anderen. Und wie anders als mit den in über 2000 Jahren entwickelten Mitteln und Theorien der Philosophie ließen sich die Fragen nach den Grenzen des Menschseins besser ausloten?

Dabei gilt: Wer sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt, verliert den Kontakt zur Gegenwart, doch wer geschichtsvergessen immer nur in die Zukunft zu blicken sucht, wird unweigerlich zum weltfremden Schwärmer. Entsprechend ist es das Ziel von Herausgebern und Redaktion, auch in Zukunft auf Basis der überreichen Geschichte der Philosophie zum Selberdenken zu animieren. Denn nichts befähigt aufgeschlossene Denkerinnen und Denker mehr zur Analyse und Entwicklung eigener Lösungsansätze als die Beschäftigung mit der philosophischen Tradition und dem aktuellen philosophischen Denken!

Auch die nächsten 25 Jahre möchten Herausgeber und Redaktion des Journals für Philosophie der blaue reiter auf der Basis soliden philosophischen Wissens zusammen mit bekannten Autoren, unkonventionellen Denkern und Künstlern nach vorne denken: Aus Freude am Denken für die Liebhaber des Denkens! „Denken für Selberdenker“ – das war, ist und bleibt das Leitmotiv von Redaktion und Herausgebern.

Was bedeutet Ihnen der blaue reiter?

Dank unseres Journals für Philosophie der blaue reiter hatte ich bis jetzt 25 Jahre die Gelegenheit, mich Tag für Tag mit überaus interessanten Texten und Menschen über die Grundlagen des Menschseins, der Gesellschaft, der Natur, ja des Kosmos auseinandersetzen zu dürfen. Ich hatte durch den blauen reiter das Glück, die Grenzen des Denkens und des Denkbaren kennenzulernen, und durfte vor allem die Freuden des Denkens genießen.

Wieso sollten philosophische Texte für alle verständlich formuliert sein?

Weil in den überlieferten wie den aktuellen philosophischen Texten sehr viel Weisheit verborgen liegt. Herausgeber und Redaktion des Journals für Philosophie der blaue reiter haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Wissen so darzustellen, dass es von möglichst vielen Menschen verstanden und entsprechend auch genutzt werden kann – sei es zur Selbsterkenntnis, für die ganz persönliche Bewusstseins- und Seelenbildung oder auch zum Nutzen der Gesellschaft. Verändern kann man sich und die Welt nur, wenn man ein Verständnis dessen hat, was den Menschen ausmacht, und auch die Begriffe, mit denen man Mensch und Welt zu beschreiben sucht, so gut definiert, dass man ohne Missverständnisse darüber diskutieren kann. Eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht mehr über sich und ihr Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt nachdenken, wird zwangsläufig scheitern. Die Menschen müssen sich mit den Anforderungen, die die Welt an sie stellt, auseinandersetzen, praktisch und geistig. Begrifflich funktioniert das am besten mit den Mitteln der Philosophie, solange diese nicht selbst dogmatisch wird, wie zum Beispiel die Philosophie im Dritten Reich oder im Ostblock des Kalten Krieges. Wissen, das nur vermeintlichen Eliten zugänglich ist, wird zum Herrschaftsmittel. Freiheit ist eben immer auch eine Frage der Bildung. Insofern wollen wir mit unserer Arbeit, dem Verständlich-Machen von Philosophie, den Menschen die Möglichkeit an die Hand geben, über sich und ihren Platz in der Welt nachzudenken und so zum Beispiel auch etwas über ihre eigenen Denkmuster zu erfahren.

Was ist für Sie der wichtigste philosophische Begriff?

 Phronesis. Dieser altgriechische Begriff lässt sich mitlebenspraktische Klugheit“ übersetzen und führt neben dem Praxisbezug des Denkens auch das Vermögen des Selberdenkens sowie das Wollen desselben im Wort. Philosophische Theoriebildung in sogenannten weltabgewandten Elfenbeintürmen ist etwas sehr Wichtiges. Den richtigen Blick auf den Menschen, die Gesellschaft und die Welt kann man nur von außerhalb gewinnen. Aber dieses so gewonnene Wissen muss sich in der Praxis bewähren. So ist zum Beispiel eine ethische Theorie, die alle Menschen zu reinen Vernunftwesen idealisiert und deren allzu menschliche Sehnsüchte und Begierden ignoriert, praktisch wertlos. Philosophie besteht vor allem in der Einsicht in das Wesen des Menschen und der Welt sowie dem Versuch, daraus Vorschläge abzuleiten, wie trotz aller vermeintlichen Schwächen der Menschen ein gedeihliches Zusammenleben in größtmöglicher Freiheit gelingen kann. Das ist nur realistisch, wenn möglichst viele Menschen sich daran beteiligen, auch und vor allem solche, die eben nicht in Elfenbeintürmen sitzen, sondern jeden Tag ganz lebenspraktisch mit Geldverdienen, Kindererziehen etc. beschäftigt sind.

Welchen Mehrwert bringen die prominenten Philosophen, Autoren und Künstler für das Journal?

Der Mehrwert von Interviews mit prominenten Nicht-Berufsphilosophen und die Zusammenarbeit mit Künstlern bei der Gestaltung unseres Journals liegt vor allem darin, dass wir unseren Lesern dadurch ganz andere Hinsichten auf die Welt vorstellen können. Ein prominenter Koch und Gastwirt wie zum Beispiel Vincent Klink, den wir für die Ausgabe mit dem Titel Das gute Leben interviewen durften, bringt eine ganz andere Sicht und Lebenserfahrung zu diesem Thema ein als ein sogenannter Gastrosoph, der nur in seiner stillen Stube über die Zubereitung und den Genuss von Nahrung brütet und schreibt. Gleiches gilt für die Diskussion mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt über Gesellschaft in der Ausgabe mit dem Titel Mythos Staat oder die mit Alice Schwarzer und Margarethe von Trotta über die Rolle der Frau in der Ausgabe Denken Frauen anders? sowie das Gespräch mit dem Hirnforscher Ernst Pöppel in der Ausgabe Gefühle. Auch Künstler wie Timm Ulrichs, Rune Mields, Wolfgang Mattheuer und Silvia Bächli, um nur einige zu nennen, bringen eine ganz eigene Form der Wahrnehmung und Sichtweise in die jeweilige Ausgabe ein. Der Redaktion und mir geht es vor allem um die je spezifischen Hinsichten auf Welt und das entsprechende Thema. Wer könnte zum Thema „Grenzgang“ authentischer erzählen als Reinhold Messner? Wer spannender über Fragen nach Authentizität und die Wahrung des eigenen Ichs in verschiedenen Rollen berichten als ein Schauspieler wie Klaus Maria Brandauer? Gleiches gilt für die Straßenumfrage, bei der Mitarbeiter ganz normale Menschen auf der Straße nach ihrer Meinung zu den Themen der jeweiligen Ausgaben befragen. Letztlich macht es die Mischung.

Was soll die nächsten 25 Jahre erhalten bleiben und was sich ändern?

Die Grundidee unseres Journals wird sich nicht verändern. Wir werden auch weiterhin alles daran setzen, philosophisches Gedankengut möglichst verständlich zu präsentieren, Fremdworte zu erklären, altgriechische und lateinische Begriffe und Zitate zu übersetzen bzw. zu erläutern, um möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zum Selberdenken an die Hand geben zu können. Ebenso werden wir sicherlich die aufwändige Gestaltung und die Zusammenarbeit mit Künstlern statt mit reinen Illustratoren beibehalten. Die Redaktion und ich favorisieren einen Philosophiebegriff, der sich aller zur Verfügung stehenden Mittel wie eben der Kunst und auch der Literatur bedient, um einen Gedanken möglichst plastisch und verständlich darzustellen. Darüber hinaus ist Schönheit für uns auch ein Wert an sich. Wir werden uns auch weiterhin bemühen, das Sagbare in möglichst schöner Form zu sagen.

Bedauerlich ist, dass wir in den letzten Jahren aus Kostengründen leider kaum mehr Interviews führen konnten. Das ist zurzeit ein Manko, das ich gerne beheben würde.

Was ist das Wichtigste, das Sie in den 25 Jahren Verlagsarbeit gelernt haben?

Dass es etwas anderes ist, gute Bücher und gute Zeitschriften zu machen, als diese zu verkaufen, und dass gute Ideen nicht ausreichen; man muss es auch verstehen, diese bekannt zu machen und durchzusetzen.

Wie erklären Sie sich den Erfolg des blauen reiters?

Die Herausforderungen unserer Zeit wie die zunehmende Technisierung unserer Gesellschaft, Migration, Klimawandel, Digitalisierung und so weiter, verunsichern viele Menschen. Gleichzeitig mit diesen Veränderungen verlieren viele Institutionen wie der Staat oder die großen Kirchen ihre Glaubwürdigkeit sowie ihre Halt- und Orientierung gebende Kraft. Diejenigen, die willens und in der Lage sind, sich selber Gedanken zu machen und den Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Immanuel Kant es formuliert hat, in Angriff nehmen möchten, wenden sich zwangsläufig der Philosophie zu. Redaktion und Herausgeber des blauen reiters kennen keine ideologischen Grenzen und Denkverbote. Durch das Vorstellen dessen, was denkbar ist, wollen wir vielmehr zum Selberdenken animieren, sozusagen Denkfutter aus der reichhaltigen philosophischen Tradition sowie den aktuellen Strömungen vorstellen. Entsprechend fühlen sich viele Menschen aus ganz verschiedenen Denkschulen und Religionen angesprochen.

Welches ist Ihre Lieblingsausgabe?

Eigentlich immer die gerade aktuelle, weil ich inhaltlich mit dieser jeweils am stärksten verbunden bin und die Geschichten von deren Entstehung, die inhaltlichen Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Autoren, Künstlern und Redakteuren mir am präsentesten sind. Momentan ist das gerade die Ausgabe mit dem Titel Der Trost der Endlichkeit. Aufgrund der intensiven Beschäftigung mit dem nächsten Thema Die Kunst des Zweifelns gewinne ich zurzeit immer mehr Freude an dieser Ausgabe. Der Vorteil unserer themengebundenen Ausgaben besteht ja genau darin, dass wir nicht, wie es viele Fachzeitschriften machen, beliebige Texte aneinanderreihen, sondern dass jede Ausgabe eine Einführung in das jeweilige Fachgebiet der Philosophie darstellt. Dadurch sind alle Ausgaben immer aktuell.

 

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