Aussteiger Christian E. Weißgerber über seine Biografie "Mein Vaterland!" (Orell Füssli) „Ich beschreibe unbeschönigt, warum im 21. Jahrhundert weiterhin viele Menschen zu RassistInnen und Nazis werden“

Christian E.Weißgerber: „Wer die derzeitigen Prozesse in Ost- und Westdeutschland verstehen will, kann nicht auf die Innenperspektive verzichten“

Er selbst sagt: „Ich hatte unzählige Möglichkeiten, aber ich wollte unbedingt Nazi werden.“ Der Aussteiger Christian E. Weißgerber stellt sich in Mein Vaterland! (Orell Füssli) selbstkritisch der Frage, warum er ein Neo-nazi war. In seiner Biografie erzählt er über seine Kindheit mit einem gewalttätigen Vater in Eisenach, wie er noch während der Schulzeit in die falschen Kreise geriet und wie er sich aus der Szene irgendwann wieder befreien konnte. Anlass für weitere Fragen an den Autor:

BuchMarkt: Worum geht es in dem Buch?

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Christian E. Weißgerber: Das Buch soll Menschen ein besseres Verständnis des oft als „Rechtsruck“ bezeichneten Geschehens in Europa und anderswo geben. Es versucht über die Wandlungsformen rassistischer und nationalistischer Politiken (Identitäre, AfD und Neue Rechte) aufzuklären und zu verdeutlichen, warum diese bis heute vor allem für junge Männer attraktiv sind. Es ist das erste Aussteigerbuch das nicht von einem Ghostwriter verfasst wurde. Zugleich habe ich auch versucht, mit anderen Traditionen dieses Genres zu brechen: der vernachlässigte Sohn ohne Perspektive oder das arme Mädel aus der Nazifamilie. Diese zwei Tropen sollen dann erklären, warum man ja angeblich gar nicht anders konnte, als Nazi zu werden. Aber niemand wird dazu gezwungen, Nazi zu sein. Das ist immer auch eine eigene Entscheidung, genauso wie diejenige auszusteigen. Die Buchidee selbst entstand in Gesprächen sowie als Reaktion auf Vorträge zum Thema, die

ich seit einigen Jahren in Schulen, Unis, bei Abendveranstaltungen und in Funk und Fernsehen gebe. Gut angekommen ist dabei vor allem meine Art, klar und unverblümt über das Thema zu sprechen und die Motivationen, Denkmuster und Strukturen zu erklären.

Wie sind Sie damals in die Nazi-Szene hineingerutscht?

Ich bin überhaupt nicht in die Szene „hineingerutscht“. Das in dieser Frage verwendete Bild des Rutschens oder auf die sprichwörtliche schiefe Bahn oder in den falschen Freundeskreis Geratens, ist meiner Meinung nach Teil einer Schutzbehauptung: Eltern und etablierte Medien verbreiten sie immer wieder – ungünstige Bodenverhältnisse, schlechtes Schuhwerk, kurze Unaufmerksamkeit und schwupp: Unfall ohne Selbstverschulden. Damit wird einerseits die Eigenverantwortung der Menschen verdeckt, die ja immer auch Nazis und Rassisten sein wollen. Niemand wird dazu gezwungen. Selbst Kinder, die in Nazifamilien aufwachsen, hätten die –  wenngleich schwierigere Möglichkeit –  gegen ihr Elternhaus zu rebellieren und mit der menschenverachtenden Ideologie zu brechen. Ihnen werden schlicht nicht genug äußere Anreize gegeben, mit ihrem sozialen Umfeld und ihrer quasi-religiösen Ideologie zu brechen. Das wäre Aufgabe der Zivilgesellschaft einer demokratischen Kultur. Andererseits lenkt das Framing vom Unfall auch davon ab, dass es sich eben nicht um willkürliche Randphänomene handelt, wenn wir über Rassismus und Nationalismus sprechen.

Ich selbst war immer der Überzeugung, dass ich nur zu Ende denke, was ich zu Hause, in der Schule oder in anderen Kulturbezügen gelernt habe. Wer erfahren möchte, welche Punkte das genau waren und warum ich es als Aufwertung meiner Lebensverhältnisse ja sogar als Befreiung empfunden habe, Nazi zu werden, den/die muss ich auf das Lesen des Buches vertrösten.

Wie schwer war der Ausstieg, gab es einen Auslöser?

Wie beim Einstieg auch, gab es nicht ein einziges Erlebnis. Es handelt sich auch hier um einen Prozess, der sich durch verschiedene Ereignisse und Erlebnisse vollzogen hat. Dass für Medienzwecke in Interviews und Filmen diese komplizierten Lebenssituationen von Aussteigern dann rückwirkend auf ein Schlüsselmoment verkürzt werden, trägt zur Mythenbildung unserer Medienlandschaft bei, die selten in der Lage ist, Komplexes adäquat abzubilden. In meinem Buch weise ich ausführlich auf dieses Problem hin und habe versucht, diesem literarisch Rechnung zu tragen. Ob mir das gelungen ist, können freilich nur aufmerksame LeserInnen einschätzen und bewerten.

Welche Leserschaft soll angesprochen werden?

Mein Vaterland richtet sich an alle Menschen, die Interesse an Politik und (Zeit)Geschichte haben und es nicht verschmähen, sich auf einer der Komplexität dieser Phänomene angemessenen Ebene mit Rassismus, Nationalismus und deren aktuellen Spielarten auseinanderzusetzen.

Mit welchem Argument kann der Buchhändler das Buch am besten verkaufen?

Es ist das erste Buch eines Aussteigers, das unbeschönigt beschreibt, warum im 21. Jahrhundert weiterhin viele Menschen zu mehr oder weniger offenen RassistInnen und Nazis werden. Wer die derzeitigen Prozesse in Ost- und Westdeutschland verstehen will, kann nicht auf die Innenperspektive verzichten.

Welche drei Wörter beschreiben das Buch optimal?

Schonungslos, klar, differenziert.

Gehören Sie heute einer Partei an? Was sind Ihre Ideale heute?

Parteien scheinen mir nur bedingt in der Lage zu sein, die Probleme unserer heutigen Zeit zu lösen. Ich finde mich jedenfalls in keiner wieder. Mein Ideal wäre eine auf Grundlage verwirklichter Menschenrechte basierende Gesellschaft, die sich nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen richtet, anstatt diese mit materiellen Sachzwängen zugrunde zu richten.

Und privat? Was lesen Sie da?

Derzeit Günther Anders Die Antiquiertheit des Menschen und Christian Fuchs Reading Marx in the Information Age.

 

 

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