Das Sonntagsgespräch Louis Hanemann: „Im digitalen Geschäft muss die Buchbranche nicht abgehängt werden“

Was ist, wenn man als Buchhändler-Sohn geboren wird und dann bei Rocket-Internet Karriere macht? Wie sieht er als Online-Experte die digitale Entwicklung der Branche?

Luis Hanemann spricht hier erstmals über die Chancen der Buchbranche, am digitalen Wandel stärker teilzunehmen als bisher.

Luis Hanemann

Die Buchbranche ist, anders als viele andere Branchen, schon sehr früh mit dem Thema Digitalisierung konfrontiert worden. Auf der Handelsseite gibt es seit 20 Jahren Amazon, auf der Verlagsseite reicht die Geschichte sogar schon 30 Jahre zurück. Haben Sie den Eindruck, die Branche habe ihren Vorlauf gut genutzt?

LH: Im Großen und Ganzen leider eher nicht. Allerdings ist die Buchbranche da bei Weitem nicht alleine. Viele Industrien unterschätzen die Wucht mit der die Digitalisierung, die gesamte Wertschöpfungsketten verändern wird, bis es zu spät ist. Wenn ich mir Industrien ansehe, die sich erst seit 3 oder 4 Jahren der Digitalisierung ausgesetzt sehen, muss ich sagen: Viele Unternehmen verstehen nicht die Veränderungen, die unumstößlich auf ihre Branchen zukommen. Sie versuchen mit altbewährten Methoden sich auf die Veränderungen vorzubereiten, aber das wird nicht reichen

Wobei es von Verlagen nicht an Versuchen gefehlt hat, sich digital zu etablieren. [Langenscheidt etwa hat zum Beispiel vor Jahrzehnten schon versucht, mit Übersetzungscomputern Fuß zu fassen. Merian wollte ins Geschäft der Fahrzeugnavigation hineinwachsen – warum ist es Verlagen nicht gelungen, mit einfachen, aber überlegenen Geschäftsmodellen im Digitalmarkt zu etablieren?]

LH: Sich einzelne Misserfolge losgelöst anzusehen ist irreführend. Verlage denken, sie können ein oder zwei digitale Projekte auflegen und die müssen dann zum Erfolg werden. Das ist nach aller Erfahrung zu kurz gedacht. Schauen Sie sich Google an – die schließen Jahr für Jahr vielleicht 90 Prozent ihrer digitalen Projekte. In der Startup-Welt setzen sich von zehn Unternehmen auch nur ein bis zwei richtig durch. Auch Verlage müssen zu einer Try & Error- bzw. Test&Learn-Kultur kommen.

Was wäre dementsprechend Ihr Rat an Verlage? Wo wäre für sie der erfolgversprechende Hebel?

LH: Ziel für ein Unternehmen sollte sein: Die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Mitarbeiter soviele Versuche wie möglich starten können. Mitarbeiter sollten aktiv werden können, sollten als Scouts wirken und nach Ansätzen für das jeweilige Unternehmen suchen. Und dann muss man relativ schnell die Ergebnisse bewerten und die Konsequenzen ziehen.

In den Anfangsjahren des Internets waren alle Seitenbetreiber hinter Inhalten her – Buchverlage verfügten über die Inhalte und waren begehrte Gesprächspartner. Content ist aber offenbar gar nicht Währung im Netz – was dann?

LH: Content ist durchaus ein wichtiger Teil eines Erfolgskonzepts, aber es kommt bei digitalen Produkten auch auf andere Erfolgstreiber an. Zum Beispiel auf technologie-orientierte User-Experience und auf die Effektivität des Marketings. User-Experience meint, dass das Angebot dem Kunden Mühen abnimmt und nicht die Bedienung neue Mühen produziert. Netflix beispielsweise hat sehr viel guten Content aber auch eine tolle User Experience: Das System ist schlau genug, beim Wiederaufruf einer Serie genau die Stelle anzuzeigen, bei der ich beim vorigen Mal gestoppt habe. Netflix analysiert das Sehverhalten und schlägt darauf passenden weiteren Serien an. Mit diesem Wissen kreiert Netflix auch eigene Serien.

Und was ist mit Marketing-Effektivität gemeint?

LH: Heutzutage kann jeder Content erzeugen, deshalb ist die Auffindbarkeit von Content wesentlich geworden. Hörbücher über Google oder im Google-App-Store zu finden ist zum Beispiel ein Erfolgskriterium. Sie werden sich wundern, wie wenige große Verlage dort vertreten sind. Die Auffindbarkeit wird von ihnen offensichtlich vernachlässigt. Auch die im Ecommerce relevanten Metriken wie Customer Acquisition Costs und Customer Lifetime Value werden häufig noch nicht vollständig verstanden und genutzt.

Herausforderung für die Buchbranche: den digitalen Wandel aus der Nähe erleben

Sie kennen sich ja aus im Markt der digitalen Startups: Ist das für Verlage überhaupt ein lohnenswertes Such- und Betätigungs-Feld, könnten sich Verlage mit neuem Knowhow auch neue Marktchancen „einkaufen“?

LH: In jedem Fall möchte ich raten, sich mit digitalen Startups intensiver zu beschäftigen. Das ist allerdings schwieriger geworden, weil Angebot und Nachfrage im Grunde global unterwegs sind. Startups denken oftmals global, das heißt, sie entwickeln ihre Ideen so, dass sie weltweit funktionieren können. Eine Anpassung an nationale oder regionale Erfordernisse lässt sich dann über Lokalisierungen vornehmen. Umgekehrt gilt auch: „Eingekauft“ werden solche Innovationen ebenfalls global. Der Markt ist auf diese Weise natürlich erheblich größer geworden als noch vor Jahren.

Überfordert das nicht den größten Teil der Unternehmen in der Buchbranche, auf diesem Markt nach Rosinen zu suchen?

LH: Ohne Hilfe von außen ist dass sicherlich schwierig. Venture Capital als Anlagemöglichkeit wäre eine Chance, den digitalen Wandel ganz aus der Nähe zu erleben und gleichzeitig mit konkreten Projekten in Kontakt zu kommen. Metro, Holtzbrinck oder der Otto-Versand machen das heute in großem Stil. Aber auch in kleinerem Maße bietet Venture Capital die Chance zur Adaption. Man schafft es offenbar auch leichter, innovative Projekte außerhalb des eigenen Unternehmens zu starten als innerhalb.

Verlage sind inzwischen relativ gut in Sachen digitaler Kundenkommunikation, z.B. via Facebook. Reicht das nicht, sollten Verlage sich nicht konsequent auf Offline- und daraus abgeleitete E-Book-Produkte beschränken – und gut ist es? Pfannenhersteller denken doch auch nicht dauernd über Digital-Geschäftsmodelle nach, oder?

LH: Das Pfannenbeispiel hört sich zunächst skurril an – aber selbst die Hersteller von Küchengeräten experimentieren digital. Bei denen heißt es freilich „internet of things“ – Miele und andere liefern dazu Beispiele. Aber der Kern der Frage heißt ja wohl: Macht es nicht mehr Sinn, die Stärken zu stärken, als auch noch digital mitmischen zu wollen. Eine Antwort erlaubt vermutlich immer nur der konkrete Einzelfall, aber für mich bleibt die Problematik bestehen: Was Sie heute als Stärke besitzen, wird vielleicht irgendwann auch digital überholt.

Bei der Online-Sales-Conference im Dezember werden Sie als Impulsgeber und Gesprächspartner mitwirken – dort geht es dann weniger um Digitalstrategien für Verlage als um die Frage, wie Online-Vertrieb aus Sicht der Verlage und/oder des Handels entwickelt oder optimiert werden kann. Heißt das nicht zwangsläufig auch, dass Verlage ihre Verkaufsbemühungen mit Blick auf den Endkunden intensivieren und letztlich den Buchhandel abhängen?

Viele junge Leute haben noch nie eine Buchhandlung von innen gesehen

LH: Intensivieren müssen Verlage ihre Verkaufsbemühungen in jedem Fall. Die Auffindbarkeit ist ein wunder Punkt, dessen Beseitigung beiden Seiten nutzt. Abgehängt werden muss der Buchhandel dabei nicht. Gerade wenn das Angebot an Produkten wächst, kann der Buchhandel beim Auswahlprozess helfen, kuratieren und durch eigenen Qualitätsanspruch relevant bleiben.

Wie könnten denn Modelle aussehen, die Verlage und Handel beim Online-Sale an einem gemeinsamen Strick ziehen lassen – oder ist das romantisches Wunschdenken?

LH: Die Rolle der Verlage sehe ich bei zentralisierten Aufgaben.. Dass etwa die Produkte im Appstore oder bei Google gut gefunden werden können. Hier bedarf es Spezialexpertise wie beispielsweise der Suchmaschinenoptimierung oder Appstore Optimierung. Dieses Wissen sollte zentral im Verlag aufgebaut werden. Der Handel wiederum kann mehr als heute dazu beitragen, die Produkte der Verlage angemessen zu positionieren. Schauen Sie mal, wie ein Hersteller wie Sony beim Media Markt präsent ist: Durch Werbekostenzuschüsse, durch Promotoren, durch Vermarktungshilfen. Hier hat die Marke eine Bühne.

Es wird ja oft behauptet, in der digitalen Welt hätte der stationäre Handel womöglich nur noch eine Rolle als „Showroom“, in dem die Produkte der Hersteller zum Look and Feel vorgehalten werden. Gibt es eigentlich schon Beispiele, in denen diese Idee erfolgreich und zum Nutzen beider Seiten umgesetzt wurde?

LH: Es bestehen natürlich einige Showrooms, die von Onlinehändlern initiiert wurden – „Fashion for home“, der Möbelhändler, fällt mir dazu ein. Aber die Frage meint ja die Verschränkung von Online-Angebot und stationärem „Showroom“ unter Einbezug des klassischen Handels. Warby Parker aus USA wäre so ein Beispiel. Der Brillenhändler hat als Pure-Player online begonnen, aber festgestellt, dass ein stationäres Geschäft an vielen Standorten rentabler ist. Die Rücksendungen fallen einfach kleiner aus. Mr. Spex in Deutschland ist vermutlich ein ideales Beispiel: Der Online-Versender arbeitet mit 450 konventionellen Optikern zusammen. Hier ist also die Verschränkung mehr als nur ein Experiment. Überhaupt scheint mir, dass die Trennung in Online/Offline nur ein Durchgangsstadium ist, weil sich die Systeme ergänzen.

Wenn es um erfolgreichen Online-Sales bzw. die erfolgreiche Kombination von On- und Offline geht, welche Branchen haben für Sie Vorbildcharakter? Oder welchen konkreten Fall sollte man als Benchmark in den Fokus nehmen?

EH: Als Branche halte ich die ganze Game-App-Industrie für bemerkenswert und relevant; die Spielesoftware kämpft um dieselbe Zeit wie die Buchindustrie: Lese ich, spiele ich oder schaue ich einen Film an? Die sind schon deutlich in Richtung App-Economy gegangen. Auch Netflix sehe ich als Benchmark, bei dem man viel lernen kann. Bemerkenswert scheint mir auch das Konzept von Aboutyou, einem Modeportal von Otto. Das arbeitet mit offenen Schnittstellen und ist dadurch eine Einladung an Dritte, eigene Anwendungen zu programmieren, die sich dann das Angebot von Aboutyou zu nutzen machen. Für Menschen, die weiß lieben, könnte man zum Beispiel einen Shop programmieren, der lauter weiße Klamotten bietet, die dann von Aboutyou logistisch betreut werden.

Wenn Sie ein paar Jahre nach vorne schauen: Was wäre in Ihren Augen eine für die Buchindustrie ideale Entwicklung, die speziell die Rolle der Independents – das ist ja eines der Spezifika des Buchmarkts sowohl bei uns wie in den USA – stärken würde?

LH: Ich bin optimistischer für die Independents als für die großen Ketten, denn die Ketten sind substituierbarer durch Amazon. Es gibt ein starkes Bedürfnis nach einem Buchhändler als vertrauenswürdigem Partner. Ich kenne niemanden, der sagt, er liebe Karstadt oder Thalia – aber bei kleineren Buchhändlern ist eine persönliche Beziehung oft identitätsstiftend. Ich glaube daran, dass es auch in 20 Jahren Buchhandlungen gibt – aber der Handel muss sich fragen, wie er den „Erstkontakt“ auslöst. Es wachsen viele junge Leute auf, die noch nie eine Buchhandlung von innen gesehen haben. Die gilt es zu gewinnen. Es wäre hilfreich, wenn der Handel stärker in Kundenbeziehungen investieren würde – CRM bietet dabei Unterstützung, wird aber vom Buchhandel noch so gut wie gar nicht wahrgenommen.

In Amerika stagniert neuerdings der Anteil der eBook-Absatzes am Gesamtmarkt bei rund 20 %. Bei uns scheint die eBook-Wachstumsdynamik auch zu erlahmen – bei deutlich kleineren Anteil am Gesamtmarkt. Welche Erklärung können Sie sich für dieses Phänomen vorstellen?

LH: Es gibt vermutlich viele Erklärungsmodelle – aber aus meiner Sicht ist eins plausibel: Da immer mehr Menschen immer mehr über „Screens“ lesen, wächst der Wunsch nach Abwechslung. Und die kann das Buch als Printprodukt oder als Hörbuch herstellen. Bei Romanen wird so ganz bewusst ein Gegentrend gelebt. In meinem Umfeld arbeiten viele junge Menschen den Tag über am Bildschirm, es zählt zu deren Lifestyle, ein Buch zu lesen, das man auch sehen kann.

Luis Hanemann (31)wird bei der 3. Online-Sales-Conference des BuchmarktFORUM am 10. Dezember in München als Impulsgeber und Gesprächspartner mitwirken. Seine berufliche Expertise hat eine ungewöhnliche Story: Der studierte Betriebswirt ist seit 15 Jahren im Online-Business aktiv. Als Marketing-Chef bei Rocket Internet war er mit einem Team von 45 Mitarbeitern unterwegs, um weltweit neue Projekte zu begleiten. Heute ist er Partner der Online-Marketing-Agentur Trust Agents in Berlin, die Startups und etablierten Unternehmen hilft, online erfolgreicher zu verkaufen. Außerdem ist Hanemann, Sohn einer Berliner Buchhändlerfamilie, als Partner für e.ventures, einem globalen Venture-Capital Fond tätig, der weltweit in Startups investiert.

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