Daniel Schreiber behauptet: „Heimat ist nie ein realer Ort, sondern ein Phantasma, ein irrealer Sehnsuchtsort“

Jeden Freitag hier ein Autorengespräch:

Heute sprachen wir mit  Daniel Schreiber. 1977 geboren ist Schreiber als Kunstkritiker für verschiedene internationale Zeitungen und Magazine tätig. Er ist Autor der Susan-Sontag-Biografie Geist und Glamour (2007), die in mehreren Sprachen übersetzt wurde. Sein hochgelobter persönlicher Essay Nüchtern. Über das Trinken und das Glück wurde 2014 zum Bestseller. Sein neues Buch Zuhause. Die Suche nach dem Ort an dem wir leben wollen erscheint dieses Frühjahr ebenfalls bei Hanser Berlin.  Wo gehören wir hin? Was ist unser Zuhause in einer Zeit, in der sich immer weniger Menschen sinnstiftend dem Ort verbunden fühlen, an dem sie geboren wurden? Wir haben beim Autor mal genauer nachgehakt:

BuchMarkt: Herr Schreiber, worum geht es in Ihrem neuen Buch?

Daniel Schreiber (c)Amy Patton

Daniel Schreiber:Ich wollte ein Buch über Entwurzelung schreiben. Ich habe den Eindruck, dass das zurzeit eines der bestimmenden kollektiven Gefühle ist, vielleicht sogar das bestimmende kollektive Gefühl. Es begegnet einem in vielen Facetten, zum Beispiel in der gegenwärtigen Renaissance des Heimat-Begriffs. Vor allem auf politischer Ebene kann diese Entwurzelung leicht instrumentalisiert werden und bedrohliche Formen annehmen. Ein Großteil der Verunsicherung, die viele von uns heute spüren, rührt daher. Die einzige sinnvolle Antwort auf dieses Gefühl kann nur eine individuelle Verwurzelung sein, glaube ich. Die einzige richtige Antwort darauf ist, mit anderen Worten, ein Zuhause für sich zu finden.

Im Jahr 2014 wurde Ihr Essay Nüchtern zum Bestseller. Sehen Sie da eine thematische Verbindung zu Ihrem aktuellen Buch?

Thematisch gibt es – außer meiner privaten Geschichte  – keine Verbindung, aber es gibt eine Verbindung in der Form. Wie Nüchtern ist Zuhause ein Essay, in dem ich persönliche Erzählstränge mit philosophischen, psychoanalytischen und soziologischen Reflexionen verbinde. Obwohl auch in Deutschland jetzt wieder mehr autobiographisch geschrieben wird, ist das eine Gattung, die man immer noch mehr aus Amerika oder Frankreich kennt. Was schade ist, denn ich glaube, dass man mit Essays Dinge ausdrücken kann, die man in anderen Gattungen nicht ausdrücken kann. Man kann etwa bestimmte Dinge in einem Essay für den Leser unmittelbarer erfahrbar machen als mit „regulären“ Sachbüchern.

Sie beschreiben „Zuhause“ als eine kollektive Empfindung, wie ist das gemeint?

Früher war das Zuhause etwas, in das man hineingeboren wurde. Heute hingegen ist Zuhause -Sein immer mit einer Suche verbunden, mit Fragen wie: Wo will ich leben? Wie will ich leben? Will ich bleiben? Die Sache ist mit der Globalisierung einfach sehr viel komplizierter geworden. Selbst die Entscheidung, in seinem Herkunftsort zu bleiben, bedarf heute eines aktiven Entschlusses. Wenn wir uns dieser Entscheidungen nicht annehmen oder sie aufschieben, hält die Erfahrung der Entwurzelung an. Ich glaube, dass man sich heute der Suche nach dem eigenen Zuhause mehr denn je stellen muss, wenn man ein zufriedenes Leben führen möchte.

Kann man den Begriff denn überhaupt definieren, auf einen allgemeingültigen Nenner bringen?

Zuhause bedeutet für jeden etwas anderes, jeder hat eine andere Geschichte, eine andere Biographie. Man kann den Begriff nur individuell verstehen, man kann ihn nur individuell in seinem Leben umsetzen. Deshalb auch die persönliche Herangehensweise des Buches, die neben den philosphischen Reflexionen dazu anregen soll, sich damit auseinanderzusetzen, was Zuhause für einen selbst bedeutet.

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Sie bringen persönliche Lebenserfahrungen mit in Ihren Essay ein. Haben Sie diese Erfahrungen machen müssen, diese Ortswechsel gebraucht, um zu erfahren, wie genau sich das Zuhause sein/Angekommen sein anfühlt?

Auch das Gefühl der Entwurzelung äußert sich bei jedem anders. Ich habe den größten Teil meiner Zwanziger mit meinem damaligen Partner in New York gelebt. Obwohl ich nach Deutschland zurückkehren wollte, fiel mir das lange sehr schwer, wieder hier zu wohnen. Das soll ich keinem Fall beispielhaft sein, aber ich glaube, dass jeder solche Erfahrungen der Unsicherheit macht, was das Zuhause betrifft. In meinem Fall war es so, dass ich mich nach meinem Umzug jahrelang nur provisorisch eingerichtet habe. Ich hatte das Gefühl, das eigentliche Leben findet erst später statt, an einem anderen Ort, nicht hier, auch als ich schon wieder einige Jahre hier gelebt habe. Irgendwann wird so ein Provisorium zu einem Dauerzustand, in dem man sich viel verschenkt.

Inwiefern spielt der Begriff der Heimat in Ihre Überlegungen rein?

Die Renaissance des Heimat-Begriffs ist, denke ich, vor allem ein Symptom unserer kollektiven Entwurzelung. Auch wenn das paradox klingt. Wir reden historisch gesehen immer nur dann über Heimat, wenn diese Heimat verloren gegangen oder bedroht ist. Der Begriff Heimat  findet sich heute wieder überall, in krisenvertreibenden Topflappensprüchen und auf Plakaten. Jahrzehntelang war der Begriff verpönt, heute wird er wieder frei von Ironie benutzt. Ich denke, dass viele Menschen, die heute über Heimat sprechen, eigentlich Zuhause und ein Gefühl der Verwurzelung meinen. Es ist interessant, wenn man sich die Kulturgeschichte des Heimat-Begriffs ansieht. Erstmals wurde er Ende des 18.Jahrhunderts romantisch besetzt. Damals war es eine Reaktion auf Industrialisierung und Landflucht  und auf die europäischen Kriege, die den Kleinstaaten, in denen  man damals lebte, immer wieder neue Identitäten aufdrückten. Damals schon beschrieb der Begriff etwas, was verloren war und was es auch eigentlich nie gegeben hat. Heimat ist nie ein realer Ort, sondern ein Phantasma, ein irrealer Sehnsuchtsort. Ein Zuhause ist hingegen etwas Reales. Hier führen wir Beziehungen zu Menschen, haben unsere Wohnung, unsere Arbeit, richten unser Leben ein.

In Ihrem Buch berichten Sie auch von Ihrer Urgroßmutter, die ihr ganzes Leben auf der Flucht war, und von Ihrer Kindheit als schwuler Junge in Mecklenburg-Vorpommern…

Ich glaube, dass es wichtig ist, sich mit dem Leben seiner Vorfahren auseinanderzusetzen, vor allem in Zeiten dieses Gefühls der Verunsicherung. Nicht zuletzt, weil diese Leben deutlich machen, wie schnell sich Grenzen verändern können. Über meine Kindheit habe ich geschrieben, weil viele schwule Männer, lesbische Frauen und Transgender ähnliche Erfahrungen der Ausgrenzung gemacht haben wie ich. Dieses grundlegende Gefühl der Zuhauselosigkeit begleitet sie oft ihr Leben lang.

Welche Leserschaft wollen Sie mit Ihrem Buch ansprechen? Auch Menschen, die denken bereits ihr Zuhause gefunden zu haben?

Es ist ein Thema, das jeden angeht und jeden anspricht. Jeder von uns muss sich damit im Laufe seines Lebens auseinandersetzen, oft auch mehrmals.

Mit welchem Argument kann der Buchhändler das Buch denn am besten verkaufen?

Jeder Leser wird sich auf die eine oder andere Art und Weise darin wiederfinden. Fast alle, die das Buch gelesen haben, berichten davon, dass sie es in einem Rutsch verschlungen haben. Die Presse hat es mit den Büchern von Joan Didion, Didier Eribon und Édouard Louis verglichen, was eine große Ehre für mich war.

Was lesen Sie aktuell? Was ist Ihr momentanes Lieblingsbuch?

Ich lese viel amerikanische Literatur. Gerade habe ich Idaho von Emily Ruskovich beendet, ein toller Roman, der leider erst nächstes Jahr auf Deutsch erscheint. Meine beiden Lieblingsbücher der vergangenen Jahre waren Garth Greenwells What Belongs to You, das ich gerade für Hanser Berlin übersetzte, und Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben, das glücklicherweise inzwischen auch hier viel gelesen wird.

Zurzeit lese ich einen französischen Roman: Philippe Bessons Arrete avec tes mensonges, ein fantastisches Buch. Auf Französisch zu lesen fällt mir zwar schwerer als auf Deutsch oder Englisch zu lesen, aber ich empfinde es als große Bereicherung.

In der vergangenen Woche sprachen wir mit Tiffany Watt Smith über ihr neues Sachbuch Das Buch der Gefühle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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