Ein Vierteljahrhundert war er Chef des Lektorats Wissenschaft im Deutschen Taschenbuch Verlag und hat dort als Historiker Maßstäbe gesetzt Dr. Walter Kumpmann

Walter Kumpmann war „Buchhändler aus Leidenschaft und zugleich Wissenschaftler aus Berufung“

Wie wir jetzt erst erfahren ist Dr. Walter Kumpmann am 24. Februar im Alter von 88 Jahren verstorben. Der promovierte Historiker und gelernte Buchhändler ist einer der legendären Männer, die die Geschichte des dtv geprägt haben. Der Historiker Wolfgang Benz erinnert in seinem Nachruf an den Mann, der von 1969 bis 1994 das Lektorat Wissenschaft bei dtv geleitet hat:
 
Walter Kumpmann war ein Vierteljahrhundert Chef des Lektorats Wissenschaft im Deutschen Taschenbuch Verlag und hat dort als Historiker Maßstäbe gesetzt. Er zeigte in seinen Programmen, dass es keine Kluft geben muss zwischen weltabgewandter Gelehrsamkeit und einem Publikum, das sich für historische Determinanten von Politik und Gesellschaft interessiert.

Walter Kumpmann wies der Geschichtswissenschaft mit dem Medium Taschenbuch neue Wege in die Öffentlichkeit. Der in den 1960er Jahren politisch und öffentlich-moralisch auch in der Historikerzunft noch nicht etablierten Disziplin Zeitgeschichte und vor allem dem Münchner Institut wurde dtv zum Publikationsort für wissenschaftliche (und gleichzeitig eminent politische) Arbeiten, die jenseits der kleinen und argwöhnischen Fachwelt ein großes Publikum fanden. Die Reihe „dtv – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“, herausgegeben von Martin Broszat und Helmut Heiber steht am Anfang der überaus erfolgreichen Zusammenarbeit. Zeitgeschichte wurde zur aufregenden Lektüre, dargeboten von Autoren unterschiedlicher – überwiegend sozial-liberaler – politischer Couleur und generationaler Zugehörigkeit, vom Emeritus Hans Herzfeld zum jungen und noch unbekannten Wilfried Loth. Die Konzeption der Reihe war noch vor Kumpmanns Eintritt in den Verlag erfolgt, aber ihre Resonanz in vielen Jahren war weithin sein Verdienst. Durch intensive Pflege ließ er auch die legendäre Reihe „dtv dokumente“ blühen, gab ihr neue Impulse und hielt die Quellen-Anthologien mit neuen Themen zur Weimarer Republik, zu „Hitlers Machtergreifung“, zur Ära Adenauer („Mein Gott, was soll aus Deutschland werden?“), zur Entstehung des Grundgesetzes („Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen“) auf dem aktuellen Stand der Forschung und des öffentlichen Interesses. Mit „Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit“, einer Sammlung von Texten zur Entstehung bürgerlicher Tugenden, öffnete Kumpmann auch der Sozialgeschichte das Tor zur Öffentlichkeit. Ebenso der Alltagsgeschichte, etwa mit dem Band „Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden“.

Verlegerische Wagnisse, die große Erfolge wurden, waren die Editionen von Theodor Mommsens Römischer Geschichte oder der Geschichte der Juden von Heinrich Graetz. Die eleganten Kassetten wurden Markenzeichen von dtv Wissenschaft. Für den Fall des Scheiterns eines der Großprojekte hatte Kumpmann präventiv ein für alle Mal den Satz geprägt, der im Verlag geflügeltes Wort wurde: „Es steht uns gut an“. Das galt auf jeden Fall für die Originalausgaben, die charakteristisch wurden und die Fama vom Taschenbuch als Medium der Zweitverwertung erledigten. Natürlich waren und sind Historiker für die wohlfeile Lizenzausgabe dankbar (z.B. Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte in 24 Bänden), aber man wurde von Kollegen beneidet, wenn man einen Vertrag mit dtv für eine Erstveröffentlichung hatte. Und der Chef des Lektorats Wissenschaft machte, wenn notwendig, klar, dass das Taschenbuch nicht durch sein Format oder die Lizenznahme als zweitrangig charakterisiert sei, sondern eine moderne buchhändlerische Vertriebsform darstelle.

Die Reihe „Deutsche Geschichte der neuesten Zeit. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ konzipiert und herausgegeben von Martin Broszat und zwei weiteren Historikern im Institut für Zeitgeschichte, wurde zur Erfolgsgeschichte öffentlicher Wissenschaft. Walter Kumpmann nahm aber auch gern quer zum bürgerlichen Interesse liegende Titel, wie die Gutachten des Auschwitz-Prozesses ins Programm, machte Adalbert Rückerls Dokumentation über den Judenmord in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka und Chelmno zum Erfolg und Kumpmann hatte die Idee, die ersten zehn Jahrgänge der „Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ als reprint ins Programm des Deutschen Taschenbuch Verlages zu nehmen. Was solche Entscheidungen für die Aufklärung über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen bedeutete, lange vor der Erfindung von public history und populärer Darreichungsformen von Geschichte, von leichter Sprache und anderem zeitgemäßen Bemühen, das ist kaum zu ermessen. Nachhaltiger Erfolg durch Qualität statt wirbelnder Effekte war das Geheimnis der Ära Walter Kumpmann.

Ernst-Peter Wieckenberg, der andere große Lektor in München, hat ihn eine „dialogische Natur“ genannt, der das Gespräch, den Austausch der Argumente liebte, der genau zuhörte, der uneigennützigen Rat gab, der scharf urteilte, aber nie Schlechtes über jemanden sagte. Kumpmann habe, schrieb Wieckenberg 1994 zum Abschied des Freundes und Kollegen aus dem Tagesgeschäft „gezeigt, ja vorgelebt, daß man das, was wir uns vom Lektorenberuf erwarten, auch wirklich leisten kann“. Dazu brauchte es Integrität und Wahrhaftigkeit, Demut vor der Wissenschaft, die keinen Raum für Eitelkeit läßt, das Wissen und die Weisheit, die theoretische Erkenntnis mit dem praktisch Machbaren zu verbinden und die Liebe zum Buch – also die Haltung, die Walter Kumpmann lebte.

Der Lektor Walter Kumpmann war Buchhändler aus Leidenschaft und zugleich Wissenschaftler aus Berufung. Der Flakhelfergeneration angehörend wurde er am Ende des Zweiten Weltkriegs noch zu Schanzarbeiten verpflichtet und im Wehrertüchtigungslager trainiert. Nach dem Abitur absolvierte er die Lehre in einer Sortimentsbuchhandlung in Düsseldorf, studierte dann Geschichte und Philosophie in München. Die Doktorarbeit bei Franz Schnabel war dem Historiker Franz Mehring als Vertreter des historischen Materialismus gewidmet. Bei Herder in Freiburg und als Leiter des Wissenschaftsverlags Karl Alber begann Kumpmanns Karriere als Lektor. 1969 übernahm er die Sparte Wissenschaft des Deutschen Taschenbuch Verlags in München.

In Westfalen geboren, wirkte der Mann von großer Gestalt – das ist nicht nur äußerlich zu verstehen – bodenständig und so authentisch, dass man sich ihn außerhalb der Münchner Szene kaum vorstellen konnte. Aber nach dem Abschied von dtv 1994 zog es ihn nach Berlin und er wurde dort, nunmehr als historisch und politisch interessierter Bürger, Mitglied der gebildeten Gemeinde, die sich bei Veranstaltungen in Sachen Kunst und Wissenschaft traf. Welches Glück für seine Freunde, als er nach der Krankheit, die ihn lange fesselte, wieder im Auditorium der Topographie des Terrors, im Brechthaus, im Theater zu sehen war.

Für den „Ruhestand“ hatte er sich eine große Tat vorgenommen. Er brachte eine deutsche Ausgabe von Edward Gibbons „The Decline and Fall of the Roman Empire“ auf den Weg, übersetzte selbst die Fußnoten und setzte sich, in aller Zurückhaltung, die ihn zierte, damit ein Denkmal. Nämlich dafür, dass es möglich war, das Publikum für ein historiografisches Monument aus dem Ende des 18. Jahrhunderts zu begeistern. In sechs Bänden erschien das Werk 2003 bei dtv, mit Erläuterungen zum Autor und zur Rezeption und es wurde zum schlagenden Beweis, dass profunde Wissenschaft und Öffentlichkeit keine Gegensätze sind. Die 2300 Seiten Text haben sich gut verkauft, im Buchhandel ist einige Jahre später sogar ein Reprint erschienen.

Kumpmann hat oft und gerne über Gibbons Art, Geschichte zu schreiben gesprochen, er hat das Erzählen und Urteilen als wesenhaft und exemplarisch für alles historiografische Bemühen verstanden. Der sarkastische Humor, den der Brite in seinen Fußnoten beiläufig zur Schau stellte, brachte verwandte Saiten beim Historiker Kumpmann zum Schwingen (Auf die Anfrage, ob die Geschichten des begnadeten bayerischen Erzählers Wilhelm Dieß in der Lizenzausgabe mit der Titelgeschichte „Das Zahnweh“ bei dtv noch erhältlich seien, antwortete er lakonisch: „Wir haben kein Zahnweh!“). Als charakteristisch wird ein Diktum Kumpmanns zitiert, in dem er einen komplexen Sachverhalt mit sämtlichen Wirkungen und Folgen zu einem Satz zusammenfügte: „Der General nahm das übel, es sich zu Herzen, den Abschied, den Revolver und sich das Leben“. Für die Authentizität verbürgen sich Kollegen, Zweifel bleiben mangels Quellenbeleg erlaubt.

Begabt zum Festefeiern, zur Geselligkeit, zu freundschaftlicher Zuwendung war es ihm auch ein Vergnügen, allein über den Alpenkamm zu wandern, den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern oder die New Yorker Halbinsel Manhattan vom hohen Norden zum tiefen Süden zu Fuß zu erforschen. Schwerer Krankheit hat er im hohen Alter noch erfüllte Lebensjahre abgerungen, das wäre ohne die Talente und den bedingungslosen Einsatz von Helga Reuter-Kumpmann und ohne die Töchter nicht möglich gewesen.

Am 24. Februar ist Walter Kumpmann, 88 Jahre alt, als integres Vorbild verehrt, geliebt und betrauert, in Berlin gestorben.

Wolfgang Benz

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