Das Sonntagsgespräch Dr. Reinhard Pietsch über die Graphic Novel „Die letzten Tage der Menschheit“

100 Jahre nach Beginn des ersten Weltkriegs erscheint Karl Kraus‘ Werl „Die letzten Tage der Menschheit“ als Graphic Novel. Das satirische Antikriegsdrama entstand in den Jahren 1915 bis 1922 und verbindet in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog die Absurdität des scheinbar normalen Alltags mit den brutalen Geschehnissen des ersten Weltkriegs.
Die Entstehung der Graphic Novel konnte seit dem Frühjahr 2013 wöchentlich online verfolgt werden.

BuchMarkt sprach mit Dr. Reinhard Pietsch, dem Initiator des Projekts, über die Hintergründe und seine Motivation, dieses bekannte Werk als Graphic Novel zu adaptieren, für die er den Schweizer Comic-Künstler David Boller gewinnen konnte.

Dr. Reinhard Pietsch

BuchMarkt: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, „Die letzten Tage der Menschheit“ als Graphic Novel zu adaptieren?

Dr. Reinhard Pietsch: Die Kunstform der Graphic Novel habe ich mit einem Auftrag kennengelernt. Ich übertrug „Zahra’s Paradise“, eine Graphic Novel über die „grüne Revolution“ im Iran, ins Deutsche, und fand, dass sich diese freie Form ideal für ein komplexes Werk wie Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ eignet. Für Bühne und Film erfordert das Werk einen immensen Aufwand. Die Graphic Novel kann uns dagegen mühelos in die Zeit rückversetzen, die Schauplätze präsentieren, kann die historischen Charaktere selbst auftreten lassen, kann auch die bisweilen skurrilen Fantasien von Kraus zu Papier bringen. Der unmittelbare Anlass war natürlich die 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs, des Beginns der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ in diesem Jahr.

Was ist der Unterschied zwischen Ihrer Adaption von Karl Kraus’ Werk und anderen Graphic Novels zum Thema des Ersten Weltkriegs?

Das Werk wählt eine andere Perspektive zu den Kriegsereignissen. Es gibt bedeutende Graphic Novels über den Ersten Weltkrieg, die sich mit den Gräueln an den Fronten, den Soldaten in den Schützengräben, den Toten und Verletzten, der Wirkung der Waffen beschäftigen. Kraus’ Satire lässt diese Aspekte nicht aus, doch die meisten Szenen spielen im Hinterland, in Wien und Berlin, die ja im Ersten Weltkrieg keine Kriegsschauplätze waren. Es geht ihm um die Reflexe im Hinterland, um die Fanatisierung der Massen, um die durch die Medien inszenierte verzerrte Wahrnehmung, ja Glorifizierung des Krieges, um die Doppelmoral und die im Alltag gelebten Widersprüche, die selbst dann noch ausgeblendet werden, wenn sie direkt aufeinanderstoßen. Auf eine kurze Formel gebracht: nicht um das Grauen selbst, sondern um die erschreckende Beiläufigkeit des Grauens.

Welche Message möchten Sie mit dieser Graphic Novel vermitteln?

Dass Kraus’ Weltkriegssatire leider sehr aktuell ist. Der Erste Weltkrieg war gekennzeichnet durch eine dramatisch zunehmende Industrialisierung und Perfektionierung der Tötung. Schwert und Säbel, die Waffen des Zweikampfes waren nur noch lächerliche Metaphern der Kriegspropaganda, Überreste einer falschen Kriegsromantik. Dagegen stehen Maschinengewehre, gewaltige Geschütze, Haubitzen, Tanks, von Flugzeugen abgeworfene Bomben, U-Boote, Giftgas – die Tötung wurde perfektioniert, sie zielte auf die anonyme Masse, in der das einzelne Leiden nicht mehr wahrgenommen wurde und die distanzierte Zerstörung nur noch als „lieblich grauweiße Wolke der Explosion“ erschien, die „viel Freude“ mache – wie es der Kampfflieger Freiherr von Richthofen in seinen Erinnerungen einmal ausdrückte. Kraus sah bereits vor 100 Jahren die konsequente Weiterentwicklung, dass ganze Städte einmal aus der Ferne nur durch einen Knopfdruck ausgelöscht werden könnten – über die heutigen Interkontinentalraketen mit ihren Atomsprengköpfen und die unbemannten Killer-Drohnen hätte er sich nicht gewundert. Der zweite wichtige hochaktuelle Aspekt betrifft die Rolle der Massenmedien, speziell des Leitmediums Zeitung. Schon damals gab es „embedded journalists“, akkreditierte, handverlesene Kriegsberichterstatter, die mit ihren gefilterten und geschönten Nachrichten die Bevölkerung auf Linie brachten und die Kriegsbegeisterung befeuerten. Die Lüge erweist sich als die Zwillingsschwester des Krieges – und ist es heute anders? Mindestens genauso aktuell ist drittens, dass es schon damals die Kriegsgewinnler gab, die Waffenproduzenten, die Schieberund Spekulanten, die der Krieg reich machte und die deshalb ein großes Interesse an dessen Fortdauer hatten.

Wie sind Sie auf den Zeichner David Boller gestoßen, und wie lief die Zusammenarbeit?

Ich suchte einen Zeichner, der in der Lage war, die historischen Gestalten und Schauplätze so umzusetzen, dass man sie wiedererkennen konnte. Er musste ein Gespür haben für die historische Szenerie bis in die Details. Es musste ein Zeichner sein, der auch vor der Schwierigkeit nicht zurückschreckte, bisweilen etwas mehr Text unterbringen zu müssen. Das grenzte die Auswahl deutlich ein. David habe ich 2011 auf der Buchmesse in Frankfurt angesprochen und konnte ihn für das Projekt begeistern – ein Glücksfall. David ging mit großem Respekt an die Texte heran und es gelang ihm stets, spannungsvolle Seiten dafür zu komponieren.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Resultat?

Der Originaltext von Kraus ist sehr umfangreich und oft nicht einfach zu verstehen. Ich musste eine Auswahl treffen, die Texte radikal kürzen und auf Kernaussagen zuspitzen. Eine zusätzliche Schwierigkeit beruht darauf, dass „Die letzten Tage der Menschheit“ keinen Helden hat, dessen Geschichte erzählt wird, sondern aus einzelnen Szenen mit vielen Mitwirkenden und Schauplätzen vom Kriegseintritt 1914 bis zur Kapitulation 1918 besteht. David ist es gelungen, ungemein facettenreich zu zeigen, wie der Alltag der Menschen vom Kriegsgeschehen beeinflusst wurde, sich die neue Dimension des Tötens in immer unmenschlichere Richtungen entwickelte und die Welt auf die größte denkbare Katastrophe zusteuerte. Das Buch endet mit einer großen Dissonanz – einem grässlichen unaufgelösten Akkord, in dem schon die nächste Katastrophe anklingt. Ich bin sehr zufrieden mit dem Resultat, und mein größter Wunsch wäre, wenn die Leser spüren, dass die gefährlichen Mechanismen der Verführung, Fehlinformation und Manipulation auch heute
noch um uns herum ständig am Werk sind.

Mehr zum Projekt:

Die letzten Tage der Menschheit

»… der Krieg verwandelt das Leben in eine Kinderstube, in der immer der andere angefangen hat, immer der eine sich der Verbrechen rühmt, die er dem andern vorwirft …« (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, I,29)

Im Jahr 2014, hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, ist Karl Kraus aktueller denn je. Seine Weltkriegstragödie »Die letzten Tage der Menschheit« (1915-1922) wird von mehreren Bühnen produziert, vielerorts gibt es gut besuchte Lesungen – und jetzt auch noch das: Kraus‘ satirisches Antikriegsdrama als Graphic Novel!

Das Konzept für dieses Projekt erstellte Dr. Reinhard Pietsch, der auch die Redaktion besorgte. Für die Illustrationen war der Schweizer Comic-Künstler David Boller zuständig. Im Herbst 2012 begann das Team mit der Arbeit, unterstützt von dem Historiker Dr. Jörg Zedler. Ab Frühjahr 2013 konnte man die Entstehung des Werks wöchentlich online verfolgen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Pietsch und Boller ist es gelungen, der scharfsinnigen Satire von Kraus ein neues Forum zu schaffen. Daraus entstand ein Konzentrat des Mammutwerks auf hohem künstlerischen und literarischen Niveau, eine eingängige und fesselnde Darstellung der unverändert aktuellen Beobachtungen Kraus’, die auch für heutige Kriege ihre Gültigkeit haben.

Die Vorteile einer GraphicNovel liegen auf der Hand. Unterstützt durch die Bilder lässt sich der oft sperrige Text besser erschließen. Außerdem erlaubt das Format, die Szenen des »Marstheaters«, wie Kraus es nannte, dort spielen zu lassen, wo sie laut Regieanweisung spielen sollen. Und natürlich können die zahlreichen historischen Charaktere selbst, die Kaiser, Fürsten, Militärs, Zivilisten und Kriegsberichterstatter die gezeichnete Bühne betreten. »Uns ging es dabei nicht allein um die historische Perspektive, sondern auch um die des heutigen Lesers, der immer wieder überrascht sein wird über den Scharfsinn, die Hellsichtigkeit und die erschreckende Aktualität des großen Satirikers«, umschreibt Pietsch die Motivation für das anspruchsvolle Projekt.

Kurzvita des Autors: Dr. Reinhard Pietsch ist nach einer langen Verlagskarriere heute freiberuflicher Autor, Redakteur und Übersetzer. Er hat in Freiburg und Edinburgh studiert und über Robert Musil promoviert und lebt heute in der Nähe von München.

David Boller, in Zürich geboren, ist Absolvent der Joe Kubert School of Graphics and Cartoon Art in Dover New Jersey, USA. Er hat für viele große Verlage gearbeitet und lebt seit 2008 wieder in der Schweiz, wo er Virtual Graphics gegründet hat und weiterhin Comics und GraphicNovels für internationale Verlage zeichnet.
Das Projekt online

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