Ich bin überzeugt, dass es in 100 Jahren auf jeden Fall noch Bücher geben wird Dr. Niels Peter Thomas im Sonntagsgespräch: Die Springer-Vision zur Zukunft des Buches

Dr. Niels Peter Thomas, Chief Book Strategist bei Springer Nature, hat an der Universität Mainz seine Vision zur Zukunft des Buches als Teil einer Jubiläums-Vorlesungsreihe zum Springerjubiläum (in Kooperation mit der Mainzer Buchwissenschaft an der Universität Mainz) vorgestellt. Sein Thema: Gibt es in 100 Jahren noch das Buch in der Form, wie wir es heute kennen? Welchen Stellenwert haben Bücher heute und wie wird er sich verändern? Welche Rolle kommt der Künstlichen Intelligenz künftig beim Schreiben und Lesen von Büchern zu? Dazu haben wir ihn im Sonntagsgespräch befragt.

Niels Peter Thomas: Wenn sich die Verlage in diesen Zeiten nicht verändern, werden sie keine Zukunft haben

Fangen wir mal ganz direkt an: Gibt es in den nächsten 100 Jahren noch Bücher?

Dr. Niels Peter Thomas: Wenn ich es genau nehmen würde, müsste ich antworten: „Das kommt auf die Definition von Büchern an“. Aber tatsächlich bin ich überzeugt, dass es in 100 Jahren auf jeden Fall noch Bücher geben wird, auch bei einer ganz traditionellen Definition von gebundenem Papier. Sicherlich wird nicht alles, was heute gedruckt wird, in 100 Jahren noch auf Papier gebracht, aber das Buch an sich wird so schnell nicht verschwinden. Auch die nächsten Generationen von echten „Digital Natives“ werden noch manches auf Papier lesen.

Wieso ist die Frage der Zukunft des Buches gerade jetzt so von Bedeutung für den Springer Verlag – aus welchem Anlass macht man sich die Gedanken?

Viele Buch-Leser denken, dass sich das Buch in seiner Erscheinungsform in den letzten 500 Jahren nicht viel verändert hat, außer dass heute nur noch die wenigsten Verlage Ledereinbände anbieten. Tatsächlich hat sich aber die Art, wie Bücher verlegt werden, wie sie gedruckt werden, wie sie verkauft werden, und wie sie gelesen werden, in den letzten 10 Jahren unglaublich schnell verändert. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die nächsten 500 Jahre (und auch die nächsten 5 Jahre!) noch viel mehr Veränderungen bringen werden.

Viele, aber nicht all diese Veränderungen finden ihren Ursprung in der Digitalisierung des Buches und des Buch-Verlegens. Trotzdem kann man nicht davon sprechen, dass diese Veränderung die simple Ablösung des gedruckten Buches durch das digitale Buch darstellt. Auch das digitale Buch und Buch-Verlegen unterliegt zur Zeit einem starken Wandel. Das ist für uns Anlass genug, diese Entwicklung zu beobachten und Strategien daraus abzuleiten, wie wir unsere Interpretation von „Buch“ aktiv verändern, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

175 Jahre Springer – ein stolzes Alter, ein stolzer Verlag, der viel erreicht hat. Welchen Stellenwert haben Bücher denn heute und wie wird er sich verändern?

Danke, das ist sehr freundlich! 175 Jahre sind in der Tat ein beeindruckendes Erbe und eine große Verantwortung. Umso mehr, als andere Unternehmensteile von Springer Nature schon auf weit mehr als 300 Jahre Buch-Geschichte zurückblicken können, wie beispielsweise J.B. Metzler.

Tatsächlich ist das Buch für Springer eine große Erfolgsstory, die uns zum weltgrößten Wissenschaftsverlag für Bücher gemacht hat. Innerhalb des Unternehmens waren Bücher schon immer das Rückgrat, Springer ohne Bücher ist kaum denkbar. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Was sich bereits verändert hat, ist unsere Interpretation was das Wesentliche an einem Buch ist, und wie wir es weiterentwickeln können.

Müssen sich Verlage der Digitalisierung anpassen? Oder sollten Sie nur auf das Buch als solches bauen?

Wenn sich die Verlage in diesen Zeiten nicht verändern, werden sie keine Zukunft haben. Allerdings ist es nicht so, dass Digitalisierung ein Automatismus ist, dem man sich entweder anpasst oder nicht. Digitalisierung kann man gestalten, die Digitalisierung selbst unterliegt einem ständigen Wandel.

Bücher erfüllen Funktionen, von denen manche eher sachlich und zweckrational sind, andere wiederum eher ästhetisch und emotional. Die entscheidende Frage für jeden Verlag ist doch, welche dieser Funktionen erfüllt das eigene Buch-Portfolio, und mit welchen technischen Mitteln lassen sich diese Funktionen optimal unterstützen. Wer diese Frage ergebnisoffen für sich beantwortet, wird zu dem Ergebnis kommen, dass Digitalisierung manche dieser Funktionen sehr stark unterstützen kann – und schon ändert sich die Digitalisierung zu einer Technologie, die das Buch unterstützt statt es zu bedrohen. Insofern: Konzentration auf das Buch als solches ist eine gute Idee, allerdings wird das gleiche Buch im einen Lesekontext in dieser medialen Form gebraucht, und in einem anderen Kontext in jener. Andere Leser brauchen eventuell alle Formate – und das vielleicht sogar gleichzeitig. Viele Buchleser nutzen bereits parallel beim Lesen ein Smartphone, um neben dem eigentlichen Buch Kontextinformationen oder andere mediale Lern- und Kommunikationsunterstützung zu bekommen. Ein Verlag, der das integriert, konzentriert sich auf das Buch, aber weitet auch gleichzeitig den Blick und den Markt.

Haben Sie Angst vor der „Künstlichen Intelligenz“?

Nein, mehr Leser und mehr Autoren sind uns immer willkommen!

Im Ernst: es ist abzusehen, dass Maschinen und Algorithmen in der wissenschaftlichen Welt in Zukunft eine deutlich größere Bedeutung zukommen wird. Bedenkt man die Geschwindigkeit des Fortschritts in manchen wissenschaftlichen Fachgebieten, gibt es kaum mehr Menschen, die in einem Gebiet immer auf dem neuesten Stand sein können. Das eröffnet natürlich Raum für künstliche Intelligenz, die in einer sehr komplexen Welt besser den Überblick behalten kann. Dafür müssen diese Algorithmen Bücher lesen, und wir verstehen es auch als unsere Aufgabe bei Springer Nature dafür zu sorgen, dass in Zukunft diese Nutzung möglich ist. Mit PDF-Dokumenten, obwohl digital, ist das nicht möglich, aber auch das ist langfristig eine Bereicherung, keine Bedrohung.

Gibt es denn Argumente warum Bücher irgendwann ganz verschwinden könnten?

Wenn ich die Digitalisierung weiter denke, ist ein mögliches Szenario, dass das Lesen bzw. die Nutzung von Büchern sich stark verändert. Es ist denkbar, dass nur noch wenige Menschen ein wissenschaftliches Buch komplett von vorne bis hinten durchlesen werden. Als Gedankenexperiment ist es daher theoretisch möglich, dass fast kein Buch mehr gelesen wird (sondern nur noch Buch-Fragmente mit anderen medialen Content-Einheiten verknüpft und verwoben werden), trotzdem würde in einem solchen Szenario das Buch nicht verschwinden. Etwas provokant formuliert, entspricht das schon heute dem Alltag des gedruckten wissenschaftlichen Buchs: zu jedem gegebenen Zeitpunkt werden nur die allerwenigsten davon gelesen, die meisten stehen die meiste Zeit im Regal. Wichtig ist aber, dass sie jederzeit gelesen werden können, wenn der Bedarf dazu besteht, und das wird auch nicht verschwinden.

Vermutlich werden es aber bestimmte Buchtypen schwerer haben als andere. Ob es das klassisch gedruckte Lehrbuch in einigen Jahrzehnten noch geben wird, wissen wir nicht. Zum Beispiel die Veränderung von gesellschaftlich-rechtlichen Voraussetzungen zum Schutz von geistigem Eigentum ist hier ein wichtiger Faktor. Anhand der gegenwärtigen Diskussion im deutschen Bundestag über diese Themen sieht man, dass ein solches komplexes Thema nur selten wirklich sachlich und langfristig durchdacht wird.

Es ist allerdings undenkbar, dass das Wissensgefälle zwischen potentiellen Autoren und potentiellen Lesern verschwinden wird, auch nicht in ferner Zukunft. Das halte ich für ein starkes Argument für den langfristigen Erhalt des Prinzips Buch.

Was können Leser, die auf das Buch bauen, tun, wie können sie sich für das Buch einsetzen?

Wer Bücher liest, unterstützt natürlich das Buch. Wer Bücher im Buchladen um die Ecke kauft, unterstützt das Buch und den Buchladen. Wer die Bibliothek seines Vertrauens regelmäßig besucht, unterstützt den langfristigen Erhalt der Bibliotheken. Änderungen in der Buchwelt werden anfangs natürlich durch das Angebot eingeleitet, aber die großen Veränderungen entstehen durch die Nachfrage. Der Online-Buchhandel ist so groß geworden, weil Menschen ihre Bücher von zu Hause oder unterwegs bestellen möchten, nicht weil der stationäre Buchhandel schlechter geworden wäre.

Wichtig ist, dass auch die nachfolgenden Generationen kritisch mit Inhalten umgehen, und lernen, Gutes von Schlechtem, Relevantes von Abwegigem zu unterscheiden. Es spricht nichts dagegen, bei einer bestimmten Sachfrage erst einmal zu googeln, aber wichtig ist auch zu wissen, dass manche Antworten nicht unter den ersten zehn Suchmaschinentreffen zu finden sind. Manche Antwort steckt in Büchern, und da können wir alle ein Vorbild sein.

Was schätzen Sie persönlich am meisten am Papierbuch?

Wer mich zu Hause besucht, sieht meine Begeisterung für das gedruckte Buch. Bücher speichern Wissen, sind schön, kompakt, langlebig, direkt zugänglich und vieles mehr. Für jede dieser Eigenschaften gibt es bessere, schönere, langlebigere, besser nutzbare Lösungen, aber keine davon vereint alles auf einmal.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft des Buches, was erhoffen Sie sich?

Ich wünsche mir eine breite Koalition aus Lesern, Autoren, Verlagen, Bibliotheken, Händlern, Politikern und Verbänden und eine sachliche, offene Diskussion über die Zukunft des Buches. Das Buch muss und wird sich stark verändern, und Springer Nature wird diese Veränderung mitgestalten. Unser Anspruch ist es, auch die nächsten 175 Jahre und darüber hinaus gute Bücher zu machen. Als Verlag werden wir dann sicher anders aufgestellt sein, aber wir werden diesen Weg hoffentlich mit allen Beteiligten gemeinsam gehen.

Kommentare (1)
  1. Die Verwandlung von Wissenschaft in Informationstechnik ist kein Naturereignis, sondern das Geschäftsprinzip der großen Wissenschaftsverlage – so viel über „gute Bücher“.

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