70 Jahre Internationale Jugendbibliothek: Dr. Christiane Raabe über die Wurzeln und darüber, wie es in der Zukunft weitergehen soll „Die Zeichen der Zeit sprechen eindeutig für Jella Lepmans Vision“

Als ein Zeichen für Frieden und Völkerverständigung wurde die Internationale Jugendbibliothek im September 1949 als eine der ersten Institutionen kultureller Bildung im Nachkriegsdeutschland eröffnet. Mit Kinderbüchern sollten Brücken in die Welt gebaut, Kulturen miteinander ins Gespräch gebracht und Vorurteilen und Ressentiments entgegengewirkt werden. Die jüdische Autorin und Journalistin Jella Lepman, Gründerin der Bibliothek, war davon überzeugt, dass in Frieden und Freiheit erzogene Kinder und Jugendliche eine freie und bessere Weltordnung aufbauen würden. Bücher sollten dabei als Friedensboten dienen.

Das wird heute in München auf Schloss Blutenburg gefeiert, mit einem Festakt und einem großen, internationalen Familienfest. Wir sprachen mit der Direktorin Dr. Christiane Raabe über die Wurzeln der IJB und darüber, wie es in der Zukunft weitergehen soll.

Dr. Christiane Raabe

buchmarkt.de: Am 14. September 1949 wurde die Internationale Jugendbibliothek damals in der Kaulbachstraße 11a in München eröffnet. Wie denken Sie heute über die Gründerin, Jella Lepman? 

Dr. Christiane Raabe: Jella Lepman ist für mich eine herausragende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, die zu Unrecht weitgehend vergessen ist: Weil sie Frau war? Weil sie Jüdin war? Weil sie sich für Kinder und Kinderliteratur einsetzte? Oder spielen alle drei Faktoren eine Rolle? In jedem Fall hat sie sich in der Nachkriegszeit mit bewundernswerter Zielstrebigkeit und visionärer Weitsicht für Versöhnung, Frieden und Freiheit eingesetzt. „Lasst uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.“ Hinter dieser Devise Jella Lepmans stand nicht zuletzt der verzweifelte Gedanke, dass die Generation der Erwachsenen nicht in der Lage sei, nach den Menschheitskatastrophen zweier Weltkriege nationales und nationalistisches Denken zu überwinden. Erich Kästner hat dem übrigens in Die Konferenz der Tiere ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Idee zu dem Buch kam von Jella Lepman.

Heute können wir von dieser ungewöhnlichen Frau lernen, Kinder und Jugendliche ernster zu nehmen. Wir sollten ihnen in ihrem kontrollierten, leistungsorientierten Alltag mehr Freiräume zum Denken, Lesen und Diskutieren einräumen. Die Zeichen der Zeit sprechen ja eindeutig für Lepmans Vision: Wir erleben gerade, wie Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt den Erwachsenen den Weg zeigen wollen.

Wenn die IJB feiert, werden zeitgleich wieder viele junge Menschen für den Klimaschutz streiken. Wie nehmen Sie dieses Engagement in der alltäglichen Arbeit wahr?

Es erscheinen seit einiger Zeit auffällig viele Kinderbücher zum Thema Klimawandel und teilweise großartig gestaltete, originelle und ansprechende Kindersachbücher, die sich mit Naturphänomenen und mit dem Leben auf der Erde beschäftigen. Eine Sensibilisierung für die endliche Ressource Natur ist überall zu spüren. Anfang September haben 18 Kinder einen einwöchigen Theaterworkshop zur Konferenz der Tiere bei uns besucht und dabei politische Botschaften formuliert, die sie den Erwachsenen in einer Aufführung im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten vortragen werden. Ich durfte mir die Hauptprobe ansehen und war erstaunt, wie selbstbewusst und klar die Acht- bis Zwölfjährigen ihre Sorgen, Ängste und Wünsche artikuliert haben.

Stellen Sie eine Veränderung der Lesegewohnheiten bei den jungen Besucherinnen und Besuchern der IJB fest, und wenn ja, wie reagieren Sie darauf?

Dass sich das Leseverhalten von Kindern und vor allem von Jugendlichen verändert hat und weiterhin verändert, steht außer Frage. Wir reagieren darauf, indem wir beispielsweise in den Bücherclubs für ältere Kinder das Lesen mit einer digitalen Anschlussaktion verbinden. Sehr beliebt ist der Buchclub „Buch auf, Film ab!“, in dem sich Kinder mit einer Geschichte beschäftigen und diese anschließend in einen kurzen Film umsetzen. Dafür werden nur ein Laptop und ein einfaches Schneideprogramm benötigt. Regelmäßig entwickeln wir mit Schulen Projekte, in denen von der Lektüre eines Textes ausgehend Rezeptionsprozesse kreativ und kommunikativ in den sozialen Netzwerken begleitet werden. Das sind einige Beispiele dafür, Anreize für das Lesen zu schaffen.

Wie kann es gelingen, Bücher als wichtiges, unverzichtbares Medium im Leben junger Menschen zu verankern?

Was das Lesen von Büchern im Allgemeinen betrifft, gibt es nach meiner Überzeugung kein Rezept, wie man in jungen Menschen den Virus der Leseleidenschaft entfachen kann. Der Funke muss letztlich von den Kinderbüchern ausgehen. Dafür müssen sie aber erst einmal in die Hände der Kinder geraten. Die Vermittlung ist nicht nur Aufgabe des Elternhauses und der Schule, sondern auch von Bibliotheken. Diese müssen Angebote gerade auch an jene Kinder und Jugendliche richten, die in einem Haushalt ohne eine gelebte Buchkultur aufwachsen, die also gar keine Möglichkeit haben, vom Lesevirus erfasst zu werden. Die Internationale Jugendbibliothek engagiert sich mit Workshops, Schreibwerkstätten, dem White Ravens Festival für internationale Kinderliteratur und Lesungen für Schulklassen sehr stark auf dem Feld der Literaturvermittlung. Darüber hinaus sind viele Autorinnen und Autoren hervorragende Botschafter fürs Lesen. Daher finden sie bei uns regelmäßig eine Bühne.

Wie sehen die wichtigsten Projekte aus, die Sie in den kommenden Jahren auf den Weg bringen möchten?

Das White Ravens Festival für internationale Jugendliteratur mit 90 Lesungen an mehr als 50 Orten und 10.000 Besuchern ist nach wie vor das wichtigste Projekt des Hauses. Es wird vom 12.-16. Juli 2020 wieder stattfinden. Das Thema Digitalisierung der Buchbestände wird uns in Zukunft verstärkt beschäftigen. Weiterhin interessiert uns die Frage nach dem Verhältnis von Jugendliteratur und Gesellschaft. Dieser Frage wollen wir im Austausch mit Jugendlichen nachgehen. Besonders freue ich mich auf eine Tagung zum Leben und Werk von Jella Lepman, die für Oktober 2020 in Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek und dem Zentrum für Buchwissenschaft an der LMU München geplant ist.

Wenn Sie zum 70. Geburtstag der IJB einen Wunschzettel an die Politikerinnen und Politiker schreiben dürften, was wären die wichtigsten Punkte?

Mehr Stellen und die damit verbundene finanzielle Ausstattung. Seit Jahren ist bei uns alles auf Kante genäht. Das Programm, die Kooperationen und die Projekte wachsen, aber das Personal wächst nicht mit.

Wen erwarten Sie zum Fest?

Wir freuen uns außerordentlich über das enorme Interesse an dem Jubiläum. Zum Festakt erwarten wir 350 Gäste. Darunter die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, den Bayerischen Kultusminister Michael Piazolo, den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter. Auch der japanische Botschafter aus Berlin und zahlreiche Repräsentanten ausländischer Kulturinstitute und Konsulate haben ihr Kommen zugesagt. Außerdem viele Autoren, Illustratoren, Verleger, Bibliothekare und Literaturwissenschaftler. Der Buchhandel wird vertreten durch den Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Bayern, Klaus Beckschulte.

Für den Nachmittag, passend zum Weltkindertag, haben wir Kinder und Familien zu einem internationalen Geburtstagsfest eingeladen. 25 Veranstaltungen – Lesungen, Theater- und Tanzaufführungen, Kinderkonzerte sowie Workshops – sind auf zwei Bühnen, in der Kinderbibliothek, im Schlosshof und in weiteren Räumlichkeiten geplant. Das Programm wurde gemeinsam mit zwölf Kulturpartnern aus München gestaltet. Wir rechnen mit mehreren hundert Kindern und ihren Familien.

Die Fragen stellte Susanna Wengeler

 

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