Immer freitags hier ein Autorengespräch - heute mit Steffen Mensching über... …die Entstehungsgeschichte und Hintergründe seines neuen Romans „Schermanns Augen“

Vor einigen Tagen berichteten wir über die exklusive Vorablesung des Wallstein Verlags im Restaurant Le Midi in Berlin (Prenzlauer Berg), zu der einige Berliner Buchhändler eingeladen waren.  Gast des Abends war Steffen Mensching , der aus seinem Roman Schermanns Augen las und einen Einblick in die Entstehungsgeschichte und die sichtlich intensive Recherchearbeit zu seinem Werk gab. Das Buch kommt Anfang August in den Buchhandel, weshalb wir die Gelegenheit nutzten, dem Autor vorab einige Fragen zu stellen:

Steffen Mensching: „Mein Buch spricht alle an, die sich für Lebensgeschichten interessieren. Für Menschenschicksale, Widerstand, Selbsthilfe, List und Lebensmut“

BuchMarkt: Worum geht es in Ihrem Buch?

Steffen Mensching: Erzählt wird die Lebensgeschichte von Rafael Schermann, der als Hellseher und Graphologe in den zwanziger Jahren eine Attraktion der Salons in Wien, Warschau, New York und Berlin gewesen ist. In den Kriegswirren des zweiten Weltkriegs verschlägt es ihn nach Lwiw, ins alte Lemberg, von dort gelangt er in ein Arbeitslager im Hohen Norden der Sowjetunion. Er begegnet im Lazarett einem jungen deutschen Emigranten, Otto Haferkorn, der eine zehnjährige Haftstrafe als „Volksfeind“ absitzt. Das ungleiche Paar versucht unter den widrigsten Umständen zu überleben. Schermanns Sehergabe macht ihn für Offiziere und Wachen genau so interessant wie für Banditen und Kriminelle.

Wie entstand die Buch-Idee?

Durch Klick aufs Cover geht’s zum Buch

Auf Schermann und seine unglaublichen Leistungen wurde ich durch ein Buch des Prager Psychiaters Oskar Fischer aufmerksam, der während des ersten Weltkriegs Experimente mit dem Graphologen durchführte und protokollierte. Ohne zur Esoterik zu neigen, fragte ich mich, wie der Wundermann seine Erfolge bewerkstelligte. War er ein Genie oder nur ein hochbegabter Rosstäuscher? Wie schaffte er es, kritische Zeitgenossen wie Karl Kraus, Adolf Loos, Ferdinand Bruckner, Else Lasker-Schüler, Magnus Hirschfeld, Sergej Eisenstein in seinen Bann zu ziehen? Dann erzählte mir eine gute Freundin aus New York, die 1939 aus Wien geflohen war, von einer Begegnung ihrer Mutter mit dem Schriftendeuter. Die Mutter hatte Schermann die ersten Schreibversuche der kleinen Lily Waldapfel gezeigt und eine Prognose verkündet, die später eingetreten sein sollte. Im Verlauf meiner Recherche wurde mir klar, dass in Schermanns Biografie eine Jahrhundertgeschichte steckt. Der Plot des Romans hat sich dann über Jahre entwickelt. Als ich entdeckte, dass sich Schermanns Spuren in die Sowjetunion verloren, wusste ich, dass ich ihm einen deutschen Politemigranten an die Seite stellen würde. Das Zusammentreffen von Okkultismus und Marxismus in einer brisanten Zwangslage. Die Konstellation versprach überraschende Wendungen und unerwartete Erkenntnisse.

Welche Leserschaft soll angesprochen werden?

Alle, die sich für Lebensgeschichten interessieren. Für Menschenschicksale, Widerstand, Selbsthilfe, List und Lebensmut. Es ist kein Buch für Angsthasen, sondern für Zeitgenossen mit Chuzpe, die den Willen haben, in einer gefahrvollen, unfreien Welt handlungsfähig zu bleiben.

Welche Reaktionen erhoffen Sie sich? 

Man sollte achthundert Seiten lang nicht bemerken, wie viele Seiten man gelesen hat und am Ende auf eine Fortsetzung hoffen. Ich glaube, es ist ein Buch mit Facetten, Tempo, Bilderreichtum, Gestalten mit Kontur. Es wird in sehr gegensätzlichen Tonfällen gesprochen, hohe, ziselierte Sprache wechselt ab mit grobem Umgangston, Argot, Ganovenjargon. Zu den Grundthesen Schermanns zählt, dass die Welt nicht einfach zu haben ist, dass man, will man der Unbill des Lebens die Stirn zeigen, mit einfachen Wahrheiten nicht weit kommt. Flexibilität, Wachheit, Geschick und Fingerspitzengefühl sind gefragt.

Mit welchem Argument kann das Buch am besten verkauft werden?

Zwar bleiben die beiden Helden Gefangene hinter Stacheldraht, trotzdem handelt die Geschichte an extravaganten Schauplätzen, auf dem böhmischen Schloß Janowitz, in Wiener Kaffeesiedereien, Pariser Redaktionsstuben, einer Moskauer Druckerei, im „Waldorf-Astoria“ in Manhattan, einem Lemberger Straßenbahndepot, einer Schraubenfabrik in Prag, auf dem Krakauer Hauptbahnhof, in der Berliner Victoriastadt oder an Bord der „Olympic“ im Atlantischen Ozean. Figuren der Zeitgeschichte treten auf, die es in sich haben: Maria Osten, eine ebenso kluge wie attraktive Journalistin, Lucien Vogel, der Zeitungsavantgardist aus Paris, Stanislawski, der russische Theatergott, die kroatische Komponistin Dora Pejacsevitch, die Operndiva Salomea Kruschelnytska, der nahezu vergessene Psychoanalytiker Wilhelm Stekel, die Genossen Willi Münzenberg, Erwin Piscator, Wilhelm Pieck… Übrigens gebührt dem Nervenarzt Oskar Fischer, der Schermann berühmt machte, das Verdienst, im Jahr 1906 die Krankheit erforscht zu haben, die zeitgleich Alois Alzheimer beschrieb. Nicht wenige Medizinhistoriker fordern heute die würdigende Umbenennung in Fischer-Alzheimer-Krankheit.  

Drei Worte die das Buch perfekt umschreiben?

Unglaublich, aber wahrhaftig.

Was lesen Sie privat gerne/aktuell? 
 
Zu meinen Favoriten zählen Italo Calvino, Julio Cortázar, Isaac Bashevis Singer, Alexander Moritz Frey. Zur Zeit lese ich Hundert Tage von Lukas Bärfuss, Die Sorge geht über den Fluß von Hans Blumenberg, The Dying Animal von Philipp Roth.

Welche Frage, die wir nicht gestellt haben, hätten Sie dennoch gerne beantwortet? 

Hat Ihre jahrlange Beschäftigung mit Schermann Ihr Verhältnis zur Schriftdeutung verändert?

Hier können Sie dies nun tun:

Auf jeden Fall. Graphologie ist ein Feld, das Psychologen und Mediziner ernst nehmen sollten, ohne Diagnosen darauf zu beschränken. Ich nähere mich – seit meiner Bekanntschaft mit Schermann – Handschriften mit größerer Aufmerksamkeit. Leider schreiben jetzt, wo ich Hobbygraphologe geworden bin, immer weniger Menschen mit der Hand. Die Schrift wird seriell. Graphologen und Schriftsteller sind Verbündete. Sie verteidigen das Individuum in seiner Einzigartigkeit.

Kommentare (2)
  1. Gruß & Dank an Steffen Mensching. Ich stieß zufällig durch das Buch „DAS GROSSE GEHEIMNIS“, herausgegeben von Enno Nielsen (1923), auf R. Sch. und löste in mir eine Lawine aus. Da meine Großmutter mütterlicherseits ebenfalls hellsichtig war, habe ich bei dem Thema keine Berührungsängste. Umso mehr verblüffte mich der Graphologe. Menschings Roman steht für mich nicht nur neben Musil. Grandios, manchmal kaum verkraftbar.
    Carl H. Demuss

  2. 820 Seiten!uff! Aber nach den ersten zig Seiten stellt sich ein Sog ein, ich wollte wissen wie es weitergeht.
    Faszinierend auch die Vielfalt der belegbaren Fakten aus diesem Buch. Was muss das für Recherchearbeit gewesen sein! Habe vieles im Internet überprüft und viel gelernt dabei.
    Ich lege oft ein Buch auf Nimmerwiedersehen nach der Hälfte zur Seite aber dieses Buch hat mit fasziniert. Fast enttäuscht war ich vom abrupten Ende.
    Herr Mensching, vielen Dank und meine Hochachtung.

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