Veranstaltungen Shortlist-Lesung in Frankfurt

Die Titel der Shortlist

Gestern Abend fand zum fünften Mal die gemeinsame Lesung aller sechs Autoren, die mit ihren Romanen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stehen, im Literaturhaus Frankfurt statt.

Hauke Hückstädt, Leiter des Hauses, begrüßte die Gäste: „Gut, dass es den Deutschen Buchpreis gibt, man kann an ihm sehr viel ablesen, den Zustand des Buchhandels beispielsweise.“

Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth bemerkte, dass die Debatten um Longlist und Shortlist auch nicht nominierte Bücher auf die Bestsellerlisten befördere und so der Deutsche Buchpreis das Lesen und die Literatur insgesamt befruchte.

„Eine freie Gesellschaft kann nicht gelingen, wenn die Literatur nicht in ihr ist“, stellte Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, fest. „Für den diesjährigen zehnten Preis konnte die Jury aus dem Vollen schöpfen; 176 Titel, die seit Oktober 2013 erschienen sind, wurden eingereicht.“ Skipis unterstrich, dass der deutsche Buchmarkt der zweitgrößte der Welt sei. „Das haben wir der Buchpreisbindung und dem reduzierten Mehrwertsteuersatz zu verdanken“, betonte Skipis. Die Buchhändler verzeichneten zurzeit die höchsten Zuwächse in der Branche. Dennoch sei weiterhin Wachsamkeit gegenüber den großen Internetportalen angebracht.

Heinrich Steinfest eröffnete die Lesung mit Der Allesforscher, erschienen im Piper Verlag. Gert Scobel, 3sat, fand den essayistischen Anfang des Romans mutig. „Es ist auch eine Warnung für die Leser“, meinte Steinfest halb scherzend und bekannte sich zu den Einflüssen anderer österreichischer Autoren wie Heimito von Doderer auf seine Arbeit. Der Einstieg sei zudem kein sinnloses Ornament, sondern im besten Fall ein Vergnügen für den Leser. In einem seiner Romane tauche die Hauptfigur erst nach 120 Seiten auf, auch dass sei keine vorausberechnete Strategie, es ergebe sich aus der Entwicklung. „Ich begleite die Figuren in einem Paralleluniversum“, sagte Steinfest.
Auf die Explosion eines Wales angesprochen, die im Buch vorkommt, antwortete der Autor: „So etwas gibt es tatsächlich, ich habe recherchiert.“
„Sie haben echt dicke Katastrophen auf den ersten 30 Seiten“, bemerkte Gert Scobel. „Dafür wird es nachher ruhiger. Außerdem sind mir Tempo- und Rhythmuswechsel wichtig“, entgegnete Steinfest. „Aber die Wendungen tauchen mit großer Schlagzahl auf“, wandte Scobel ein. „Ich muss auch dosieren, kann nicht alles Mögliche in eine Figur hineinschreiben. So ist die Traumebene ein indikativer Teil der Geschichte.“ Außerdem fügte Steinfest hinzu: „Ich war sparsam mit den Toten, es ist ja kein Krimi.“
Ehe Heinrich Steinfest las, wies Gert Scobel das Publikum darauf hin, dass der Autor auch die Zeichnungen für das Buchcover lieferte.

In Gertrud Leuteneggers Roman Panischer Frühling, Suhrkamp Verlag, begegnen sich zwei höchst unterschiedliche Menschen in London während der Zeit des Vulkanausbruchs des Eyjafjallajökull 2010 und des damit verbundenen Flugverbots. „Der Titel erinnert an Anziehung und Schrecken zugleich, der Hirtengott Pan ist ebenfalls enthalten“, erläuterte die Autorin im Gespräch mit Felicitas von Lovenberg, FAZ. „Vieles steht zwischen den Zeilen“, stellte von Lovenberg fest. „Der Erzählerin wird bewusst, dass der Zugang in das Innere eines Menschen nicht selbstverständlich ist“, sagte Leutenegger. Sie stellt dem Doppelgesichtigen in der Natur das Doppelgesichtige in der Gesellschaft gegenüber.
Zur Buchidee befragt, antwortete die Schriftstellerin: „Man hat Träume, die auf ein Buch hinweisen.“ Der Roman sei autobiografisch geprägt, aber näher möchte sie nicht darauf eingehen, ließ sich Leutenegger nicht aus der Reserve locken, bevor sie aus dem Werk las.

Nicht die Zeit, in dem Pfaueninsel, Verlag Kiepenheuer & Witsch spiele, sondern der Ton sei entscheidend für sein Buch, erklärte Thomas Hettche im Gespräch mit Alf Mentzer, hr2-kultur. Auf die Gestalt der Marie sei er schon vor über 20 Jahren gestoßen, habe aber sehr lange nach dem richtigen Ton gesucht und ihn vor vier Jahren gefunden. Es gebe sehr viel Material über die Pfaueninsel, aber: „Ich hatte alles und deshalb gar nichts.“ Materialfülle allein reiche nicht aus für ein Buch.
Auf die schlechte Kritik in Spiegel online angesprochen, entgegnete Hettche: „Ich dachte schon, es gäbe nur gute Kritiken, deshalb habe ich mich darüber gefreut.“
Interessant sei für ihn beim Schreiben gewesen, was Änderungen des Umfelds und der Ideale für eine Figur bedeuteten. Ebenfalls als spannend habe er den Streit zwischen zwei ästhetischen Konzepten empfunden. „Zwei Personen, die verschieden denken, versuchen zueinander zu kommen – das ist die eigentliche Grundidee der Geschichte“, erklärte der Autor. Vor der Lesung sagte Hettche: „Ich hatte keine Lust auf einen 1000-Seiten-Roman, deshalb kam mir die Insel zupass.“
Alf Mentzer machte auf die schöne Ausgabe aufmerksam. „Schönheit ist ansprechend, Menschen in Verlagen machen eigentlich gerne schöne Bücher. Wir hatten viel Spaß und Freude bei der Ausstattung“, fügte Hettche hinzu.

„Die 3000 Euro sind das Scharnier des Romans. Es ist ein ambivalenter Betrag und übrigens der durchschnittliche Bruttoverdienst der Deutschen“, erklärte Thomas Melle zum Titel 3000 Euro, Rowohlt. Berlin Verlag, im Dialog mit Alf Mentzer. Er las aus dem Anfang, in dem ein Satz mit „… und schwitzt“ endet. An dieser Stelle wischte sich der Autor selbst den Schweiß mit der Bemerkung „so viel zum autobiografischen Element“ von der Stirn. Das Publikum, das ebenfalls nicht gerade fror im Saal, applaudierte.
Zuerst, erläuterte der Autor, sei die Figur des Anton da gewesen. „Denise kam tatsächlich an einer Supermarktkasse dazu. Die Blicke, die auf die Kassiererinnen gerichtet sind, haben mich interessiert.“ „Treffen dann zwei Extreme von Blickregimen aufeinander?“, fragte Mentzer. „Blicke spielen eine große Rolle, sind jedoch ambivalent bei beiden Protagonisten. Denise ist Star und Gedemütigte zugleich, bekommt aber beides nicht zusammen.“ Der Autor sprach von einer „Politik der Blicke“ und von der Widersprüchlichkeit des Internets und seiner Unkontrollierbarkeit.
„Du musst dir dein Leben einfach nehmen“, denkt Denise im Buch. „In diesem Satz kulminiert für mich die Doppeldeutigkeit“, bemerkte Alf Mentzer. Thomas Melle dachte nach: „Man kann nicht alles konstruieren, aber das ist nun eine Fiktion über meine Fiktion – das möchte ich hier eigentlich nicht.“

„April auf Sächsisch kommt nicht gut“, erklärte Angelika Klüssendorf im Gespräch mit Gert Scobel zu ihrem Roman April, Verlag Kiepenheuer & Witsch. Deshalb sei der Name zwar an den 1969 veröffentlichten Titel April von Deep Purple angelehnt, werde aber wie der deutsche Monat ausgesprochen. „April ist ein hartes Mädel. Inwiefern hat das mit der eigenen Biografie zu tun?“, möchte Scobel wissen. „Sie ist hart, aber sehr klar sehend. Außerdem werden immer nur düstere Figuren hinterfragt, leichte und lustige nie“, merkte Klüsssendorf an. Die Männer im Roman seien – Scobel benutzte das A-Wort. „Das habe ich noch nie so gesehen“, wandte die Autorin ein, Scobel lenkte ein, der Ausdruck sei wohl nicht der richtige gewesen. Überhaupt sehen die beiden Gesprächspartner auf dem Podium die Dinge oft unterschiedlich. Während Scobel April als hartes Mädel, das ständig kämpfen muss, versteht, sagte Klüssendorf: „Man könnte sie auch als Glückskind betrachten; wenn sie fällt, wird sie immer wieder aufgefangen.“ „April bewegt die Herzen anderer Menschen“, urteilte Scobel. „O.k.“, war die lapidare Antwort von Klüssendorf.
Ebenfalls strittig war das Thema Überwachung in der DDR, das die Autorin als „ein Bild der Journalisten“ bezeichnete. „Das war nicht jeden Tag so“, ergänzte sie. Die schnelle Ausreise in den Westen sei autobiografisch. „Und warum ging das so schnell?“, fragte Scobel nach. „Unberechenbare wollte man schnell loswerden“, erklärte die Autorin.

„Sie werden als Favorit gehandelt“, begann Felicitas von Lovenberg die Vorstellung von Lutz Seiler und seinem Roman Kruso, Suhrkamp Verlag. „Warum erscheint erst jetzt ein Roman?“, möchte die Moderatorin wissen. „Man kann nur entweder Gedichte oder Prosa schreiben, beides geht bei mir nicht zusammen“, erläuterte Seiler. 2010 sei es Zeit für einen Roman gewesen, die vorangegangenen Erzählungen bezeichnete er als „eine Zeit der Lehre“. „Wenn ich Prosa schreibe, bin ich in einem anderen Leben“, bekannte er.
Nie habe er ein Buch über Hiddensee und über jene Zeit Ende der 1980er Jahre schreiben wollen, habe aber selbst im Sommer 1989 in der Gaststätte „Zum Klausner“ auf Hiddensee als Abwäscher gearbeitet. „Man braucht gewisse authentische Ausgangspunkte, um in etwas Phantastisches hinüber zu rutschen“, erklärte Seiler. Eigentlich habe Seilers Frau den Anstoß zum Buch gegeben, denn sie bestärkte ihn, als ein anderes Romanprojekt misslungen war, das Hiddensee-Thema aufzugreifen. „Wenn die Maschine einmal läuft, ist alles gut“, sagte der Autor über sein Schreiben.
Zum Titelhelden erklärte er: „Kruso ist nicht nur Philosoph, sondern auch eine Art Schamane.“
Das Buch sei „kein Wenderoman und keiner über die DDR. Es ist eine Robinsonade und handelt von einer Männerfreundschaft“, unterstrich Seiler. Der Epilog sei erst aufgrund von Recherchen entstanden.

Vor und nach dem langen Abend der kurzen Liste konnten sich die Zuhörer im Foyer beim Büchertisch der Buchhandlung Land in Sicht mit Lektüre eindecken und sich die Bücher anschließend signieren lassen.

JF

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