Aus der Werkstatt der Verlage (XXXI) Nora Pester: „Plötzlich war alles anders, der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit wächst“

Die Verleger-Blicke in den Editorials der Herbstvorschauen auf ihre jeweiligen neuen Programme und auf die Branche derzeit wollen wir in loser Folge mit Ihnen teilen. Hier heute das Editorial von Dr. Nora Pester (Verlegerin Hentrich und Hentrich):

Dr. Nora Pester (ganz aktuell mit Urkunde zum Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung): „Kaum hatte einer unserer Kollegen seine vage Hoffnung geäußert, dass die Gesellschaft im Ruhemodus temporär ihren Antisemitismus vergessen könnte, da krochen sie schon aus ihren digitalen und analogen Löchern: antisemitisch aufgeladene Verschwörungsfantasien rund um das Virus. Und schon bekam die „Kollektive Unschuld“ von Samuel Salzborn, unser Frühjahrstitel über die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, eine völlig neue Dimension und Aktualität“

Plötzlich war alles anders. Wir wussten, dass das Leben nicht planbar ist. Und selbst wenn einigen von uns persönliche Erfahrungen mit besonders freudigen und traurigen Überraschungen noch fehlen sollten, so konnten wir doch in unseren Büchern nachlesen, wie es ist, wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war. Die Geschwindigkeit, mit der gute und schlechte Nachrichten einander ablösen können, hat aber auch uns in den letzten drei Monaten überrollt.

Die Absage der Leipziger Buchmesse gut eine Woche vor ihrer geplanten Eröffnung führte uns allen zum ersten Mal den Ernst der Situation vor Augen. Trotzdem blieb uns die Freude über den diesjährigen Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung, dessen glücklicher Preisträger wir auch ohne offizielle Verleihung sein dürfen.

Die im Zuge des allgemeinen Corona-Lockdowns folgende Schließung des stationären Buchhandels, die Einschränkungen im Zwischenbuchhandel, die Aussetzung von Buchbestellungen bei Amazon zugunsten von Produkten mit „höherer Priorität“, sprich Toilettenpapier, ließen angesichts ihrer Beispiellosigkeit erstmals so etwas wie Panik aufkommen. Wie sollten wir unsere Bücher nun überhaupt an die Leserinnen und Leser bringen? Diese sowie zahlreiche Autorinnen, Autoren und Verlagspartner überraschten uns mit einer wiederum beispiellosen Welle der Solidarität.

Kaum hatte einer unserer Kollegen seine vage Hoffnung geäußert, dass die Gesellschaft im Ruhemodus temporär ihren Antisemitismus vergessen könnte, da krochen sie schon aus ihren digitalen und analogen Löchern: antisemitisch aufgeladene Verschwörungsfantasien rund um das Virus. Und schon bekam die „Kollektive Unschuld“ von Samuel Salzborn, unser Frühjahrstitel über die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, eine völlig neue Dimension und Aktualität.

In die erhitzten gesellschaftspolitischen Debatten platzte die überraschende Nachricht, dass wir zu den diesjährigen Preisträgern des Deutschen Verlagspreises gehören, was uns mit großer Dankbarkeit erfüllte.

Wenige Tage nach Bekanntgabe des Preises mussten wir von unserer langjährigen Kollegin und Freundin Barbara Nicol Abschied nehmen. Sie hat alle „Jüdische Miniaturen“ von Band 1 bis 255 sowie unzählige weitere Bücher für Hentrich & Hentrich gesetzt. Wir vermissen sie unendlich und werden sie nie vergessen.

Durch Klick auf Abbildung zum Blättern in der Vorschau

In gerade einmal drei Monaten durchliefen wir als Verlag – und Menschen – eine unvergleichliche Achterbahnfahrt der Gefühle. Der Wunsch nach Sicherheit und Planbarkeit wächst. Wir sind zuversichtlich, dass wir alle bald wieder planen dürfen. Dieser Hoffnung verleihen wir mit unserem ersten Hentrich & Hentrich-Kalender Ausdruck, den wir in diesem Programm vorstellen und der natürlich ein jüdisch-weltlicher Kalender geworden ist.

Wenn Nickelmann und Hulle sich auf der Suche nach kleinen und großen Abenteuern durch Berlin treiben lassen, dann tauchen wir mit ihnen ein in das Groß-Berlin des Jahres 1930. Wir spüren noch die Freiheit und die Emanzipation der Zwanziger, aber auch schon die bevorstehende Zeitenwende – durch die Augen einer aufgeweckten Berliner Göre.

Die wöchentlichen Kolumnen von Michael Wuliger in der „Jüdischen Allgemeinen“ haben Kultstatus erreicht. Unser persönliches „Best of“ kann man ab jetzt auch in die Jackentasche stecken, im Strandbad genießen, in der Luft zerreißen, an gute Freunde oder Feinde verschenken …

Die auf allen Seiten leidenschaftlich und ausdauernd geführte Debatte um den Philosophen Achille Mbembe nehmen unsere Autoren Alex Feuerherdt und Florian Markl zum Anlass, die Geschichte und Gegenwart der Israel-Boykottbewegung einmal genauer zu beleuchten, um deren Hintergründe und Ziele offenzulegen.

Wir komplettieren zudem unsere Hyam-Maccoby-Trilogie mit neuen, ja spektakulären Perspektiven auf Judas Ischariot.

Neben vielen weiteren Titeln rund um jüdische Kultur und Zeitgeschichte wächst auch unsere Reihe der „Jüdischen Miniaturen“ wieder um zahlreiche Biographien, die weiterhin die Handschrift von Barbara Nicol tragen werden.

Was nehmen wir bisher mit aus diesen turbulenten Zeiten? Das Buch hat mal wieder eindrucksvoll seine Krisenfestigkeit bewiesen. Und Lesen erweist sich als sehr quarantänetaugliche Kulturtechnik.

Bleiben Sie gesund!

Ihre

Dr. Nora Pester und das Hentrich & Hentrich-Team

Bisher brachten wir die Editorials von

Christoph Links

Lucien Leitess,

Daniel Kampa, 

Lothar Schirmer,

Christian Strasser

Sebastian Guggolz

Gerhard Steidl,

Joachim von Zepelin und Christian Ruzicska,

Constanze Neumann,

Gregory C. Zäch,

Dr. Stephanie Mair-Huydts und Steffen Rübke

Heike Schmidtke und Kilian Kissling,

Katharina Eleonore Meyer,

Peter Haag

Jochen Jung

Klaus Kehrer,

Jörg Sundermeier

Julia Eisele,

Armin Gmeiner

Christian Rotta

Ulrich Hopp,

Hejo Emons,

André Gstettenhofer,

Simone und Julia Graff

Monika Osberghaus

Susanne Schüssler

Günther Butkus

Alfred Klemm 

Voland & Quist

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