Die besten Krimis des Monats Krimibestenliste August: Garry Disher neu auf Platz 1

Die aktuelle Krimibestenliste von Tobias Gohlis in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit den zehn besten Krimis gibt es hier zum Ausdrucken.

An der Spitze der Krimibestenliste August 2019 finden Sie neu auf

Platz 1: Kaltes Licht von Garry Disher

Disher muss ein großartiger Jugendbuch-Autor sein, denn er wurde mehrfach für seine Jugend- und Schulbücher ausgezeichnet. Er ist aber auch ein großartiger Altersbuch-Autor, das zeigt Kaltes Licht.
Denn diesseits aller darin enthaltenen Krimikunst ist es vor allem ein Lobpreis des Alters. Alan Auhl hat Erfahrung, etwas Geld, ein großes Haus und Langeweile. Fünf Jahre als Pensionär haben ihm gereicht, jetzt ist er zurück bei den Cold Cases und lässt die Lästereien seiner jüngeren Kollegen über den „alten Sack“ an sich abtropfen. Er nimmt, was er kriegen kann, ohne mehr zu wollen, mit Humor. Den Gelegenheitssex mit seiner Exfrau, die in der „Chateau Auhl“ genannten Villa in Uninähe ein Stadtzimmer unterhält, kommentiert er: „Wenn ich gewusst hätte, dass es zum Cunnilingus kommt, dann hätte ich mich besser rasiert.“
Mit der gleichen Lässigkeit widmet er sich den diversen Fällen, die an ihn herangetragen werden. Studenten finden bei ihm günstig Wohnung  – es ist übrigens der einzige Roman Dishers, der in der Metropole Melbourne spielt, in deren ländlicher Nachbarschaft er wohnt – aber auch verschreckte Wesen wie Neve und Pia Fanning, die sich hier vor einem sadistischen Ehemann und despotischen Vater verkrochen haben und in der entspannten Mehrgenerationen-WG allmählich zu Kräften kommen.
Um diesen despotischen Vater, der seine kleine Tochter zwingt, ihn zu besuchen, dann aber lieber mit Freunden Pornos guckt, kümmert sich Auhl zuletzt. Da hat er schon den Arzt, der reihenweise seine Frauen umbringt, weil er an Medikamente kommt, mit denen er es leicht tun kann, seiner Art der Gerechtigkeit zugeführt. Es ist eine, die die Grenzen des Gesetzes kennt und mit ihnen umgehen kann.
Disher ist bekannt für zwei Serien: Eine handelt vom Berufsverbrecher Wyatt, die in Berlin bei Pulp Master verlegt wird – demnächst kommt dort Band acht der Folge raus. Die zweite Serie dreht sich um den skrupulösen Polizisten Hal Challis. Sie erscheint im Zürcher Unionsverlag.
Auhl agiert in Kaltes Licht lange so, als wäre er eine ältere Version von Hal Challis, bis die Kaltblütigkeit eines Wyatt zu Tage tritt. Weil bestimmte Dinge im klaren kalten Licht der Wahrheit nur auf eine Weise gelöst werden können.
Disher ist ein großer Erzähler. Das zeigt sich beim ersten, alle anderen zusammenhaltenden eiskalten Fall. Im Garten einer Kleinbürgerfamilie bedroht eine Schlange die Kinder. Sie flüchtet sich unter eine Betonplatte, die aufgebrochen werden muss, um die Schlange, die nicht getötet werden darf, fangen und unschädlich entfernen zu können. Im Versteck der Schlange findet man eine Leiche mit einer falschen Rolex am Arm.
Disher kann eine Schlange und eine Leiche unter einer Betonplatte verbergen und wieder hervorholen – und wenn die Geschichte zu Ende erzählt ist, hat man als Leser mehrere Leben hinter sich.

„Dass Krimis noch immer die besten Sonden sind, um etwas über den Zustand einer Gesellschaft zu erfahren, ergibt sich bei Disher ganz von selbst, aus der Genauigkeit, mit der er Figuren und Milieus schildert.“ (Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Neu außerdem:

Platz 3: Morduntersuchungskommission von Max Annas

Max Annas‘ Talent schärft sich an Gesellschaften mit rigiden, geschlossenen Systemen. Der 1963 in Köln geborene Autor fand erst spät zur Kriminalliteratur. Er war über 50, als er 2014 Die Farm veröffentlichte, Morduntersuchungskommission ist sein fünfter Roman.
Annas sucht nach Orten und Zeiten, in denen geschlossene Systeme ihre literarische Wucht entfalten können. Nach zwei Romanen in Südafrika (der dritte ist noch nicht veröffentlicht), einem unter illegalen Ausländern in Berlin und einem Zukunftsroman auf ehemaligem DDR-Gebiet hat er sich jetzt der DDR-Geschichte zugewandt.
Niemand ist diesmal auf der Flucht, zwei Bewegungen laufen aufeinander zu: Eine war die des Zuges auf der Strecke zwischen den thüringischen Orten Saalfeld und Jena, die 1983 zum DDR-Bezirk Gera gehörten. Mit diesem Zug war ein junger, lange Zeit namenlos bleibender „Vertragsarbeiter“ aus Mosambik unterwegs. Die andere ist die Suchbewegung von Oberleutnant Otto Castorp, dem das Schicksal des jungen Mannes keine Ruhe lässt, dessen Kopf etliche Kilometer entfernt vom Körper an eben dieser Bahnstrecke aufgefunden wurde und etwas ist, was in der DDR nicht sein kann. Ein Verbrechen an einem Menschen aus einem befreundeten Bruderstaat in einem Land, in dem es per definitionem keinen Rassismus gibt.
Wie gelähmt vom sozialistischen Sprachmief und Plüsch der Denkverbote folgen wir Otto aus seinen gewohnten Bahnen, vollziehen seine Verwandlung aus einem Familienmenschen in einen besessenen Einzelgänger mit, der selbst dann noch Gerechtigkeit verlangt, als seine Kollegen, seine Vorgesetzten, die Staatssicherheit und sein bewunderter Bruder sein Verlangen für inopportun erklärt haben.
Annas jongliert mit der Versuchung in der DDR verbotener amerikanischer Copfilme, ideologisch suspekt, geheimes Laster: Je weiter er in der Aufklärung seines Falles vorankommt, desto mehr verwandelt sich der Oberleutnant der Volkspolizei in einen Bad Lieutenant. Schlicht, großartig. Soll Beginn einer Serie sein.

Der fiktive Mord an Teo Macamo, 21 Jahre alt, in Morduntersuchungskommission spielt 1983 und basiert auf einem realen Fall. 1986 wurde der Mosambikaner Antonio Manuel Diogo bei Borne an einer Bahnstrecke tot aufgefunden. Ihm ist der Roman gewidmet, sein Fall wurde zunächst verschwiegen und blieb bis heute ungeklärt.

Platz 4: Der Sprengsatz von Nicholas Searle

Um die berufliche Vorgeschichte des Autors, der wohl Anfang Sechzig ist, gibt es ein Geraune, das Thekla Dannenberg so beschreibt: „In den Angaben zu Nicholas Searles Biografie wird besonders gern betont, dass er über seine bisherige Arbeit nicht mehr sagen dürfe, als dass er im Öffentlichen Dienst stand. Das gibt ihm geheimdienstliche Credibility und verhalf ihm vielleicht auch auf dem britischen Buchmarkt zu seinem Erfolg.“Sein Debütroman The Good Liar (deutsch 2017: Das alte Böse) verkaufte sich allein in UK 100.000 mal als Paperback.
Der Sprengsatz erscheint zeitgleich in Deutschland und UK – ein Zeichen für Bestseller-Hoffnungen seines deutschen Verlages. Es ist eine elegante, sprachlich etwas beamtenhafte Geheimdienstgeschichte, zu der Thekla Dannenberg eine elegante Rezension verfasst hat, in der sie auch den folgenden Neuzugang Adrian McKinty behandelt.

„Die Choreographie ist stimmig, und die Abfolge der gegenseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen führt dazu, dass man nie festen Grund unter den Füßen hat. Systemvertrauen und Halt durch Institutionen, von denen der Soziologe Niklas Luhmann diesen drohenden Regress ins Unendliche gebremst sah, können sich nicht einstellen, weil die Institution der Geheimdienst ist. Ein in seiner Bodenlosigkeit starkes Buch.“ (Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Platz 7: Cold Water von Adrian McKinty

The Troubles, wie man in Irland den Bürgerkrieg nennt, der 1969 bis 1998 schätzungsweise 3500 Menschen das Leben gekostet hat, sind eine tiefe Wunde im irischen und britischen Bewusstsein und sollten als Mahnung an die Fragilität der Zivilisiertheit auch im europäischen Bewusstsein präsent sein. Dem neuen PrimeMinister in London wie jedem politisch und literarisch interessierten Menschen sei deshalb Adrian McKintys Serie um den „katholischen Bullen“ Sean Duffy, der im protestantischen Carrickfergus seinen Dienst tut, dringend empfohlen.
Die Serie umspannt die Dekade von 1981 bis 1990 und scheint mit dem aktuellen siebten Band Cold Water an ihr vorläufiges Ende gekommen. Duffy jedenfalls, erschöpfter denn je, befindet sich auf dem Rückzug. Nach einem zum Glück nur beinahe tödlichen Anschlag hat er Frau und Kind nach Stranraer auf die andere Seite der irischen See verfrachtet, wo sie eine Stelle als Lehrerin angetreten hat. Er selbst will als Teilzeitreservist in den kommenden dreieinhalb Jahren sieben Tage pro Monat arbeiten – dann hat er 20 Dienstjahre und bekommt volle Bezüge.
Ganz zu Beginn seiner Laufbahn – 1980 – wurde Duffy gezwungen, die Suche nach den Mördern eines jungen Mädchens einzustellen. Das soll ihm im Fall der 15-jährigen Kat McAtamney, seinem letzten, nicht passieren. Verbissen wie nie beißt er sich durch Vorurteilsverhaue („Wen kümmert denn ein verschwundenes Tinkermädchen auch nur einen Scheiß?“). Gerechtigkeit auch für die Ärmsten zu schaffen, ist seine Theologie.

2017 hat McKinty Daniel Maginnis von International Crimefiction ein instruktives Interview über die Duffy-Serie gegeben.

Dass das vorzeitige Ende der Serie (zwei Bände waren noch versprochen) nicht mit inhaltlichen Problemen, sondern mit der ökonomischen Misere eines Autors zu tun hat, der trotz zahlreicher Auszeichungen und Veröffentlichung in vielen Sprachen von seinen Buchverkäufen seine Familie nicht ernähren kann, offenbarte McKinty jüngst in einem Gespräch mit dem Guardian. Allerdings erst, als er einen neuen siebenstelligen Vertrag über den potenziellen Bestseller The Chain abgeschlossen hatte. Man hofft.

„Cold Water ist nicht der stärkste Band der Reihe, mit der McKinty so einprägsam das Elend der Troubles in Erinnerung gehalten hat, ein bisschen schnell zusammengestrickt und für die deutsche Ausgabe mit

einem Titel versehen, der wie ein Männer-Duschgel klingt. Im Original heißt er nach einem Tom-Waits-Song „The Detective Up Late“. Es ist trotzdem zum Heulen, dass ein Autor mit solch einem smarten Sound, mit so viel Witz und Dynamik keinen finanziellen Erfolg haben konnte. (Thekla Dannenberg, Perlentaucher)

„McKintys Duffy-Reihe gehört zu den besten Serien, die die Kriminalliteratur aktuell zu bieten hat.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeiger)

Platz 8: Wenn Engel brennen von Tawni O’Dell

Tawni O’Dell hatte Schriftsteller-Glück: Ihr Familiendrama Back Roads von 2000 war Gegenstand in Oprah Winfreys Bookclub und brachte der bis dahin erfolglosen Autorin den Durchbruch.
Wenn Engel brennen ist ihr sechster Roman und laut Auskunft des Verlages der erste Kriminalroman der 1964 in Indiana geborenen Autorin. Er spielt im gleichen Milieu wie Back Roads: in den durch unterirdische Grubenbrände verseuchten Kohlenstädten West Virginias.
Chief Carnahan schießt schon mal einem Rowdy, dem sie rechtlich nichts anhaben kann, die Luft aus den Reifen und nimmt auch sonst nur das schwer, was Gewicht hat: den Mord an der jungen Camio, das Leid ihrer Mutter Shawna. Dass sie alles andere leicht nimmt, hat mir ihrer eigenen Geschichte zu tun. Carnahans Mutter wurde ermordet, und der Mann, der dafür lange im Knast saß, behauptet, er sei es nicht gewesen. Wie ein Grubenbrand schwelt diese Mordgeschichte unter der aktuellen. Die auch eine Familiengeschichte ist: die einer dysfunktionalen Familie unter der Fuchtel einer Alleinherrscherin.

„Geschickt verbindet O’Dell das Familienschicksal der Carnahans mit dem Mord an dem Mädchen aus einer zerrütteten Familie. Scharf beobachtend schildert sie mit Empathie und Witz das Leben in einem Provinzstädtchen, beschreibt Säufer und Rednecks, erzählt von Liebe und von Eifersucht, von politischer Kurzsichtigkeit und selbstzerstörerischen Familien, von Schuld und von Gerechtigkeit.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeige

Platz 10: Prisoners von George Pelecanos

George Pelecanos, 1957 als Sohn griechischer Einwanderer in Washhington D.C. geboren, hat seine Geburtsstadt in 21 Romanen auf die Landkarte der internationalen Kriminalliteratur geschrieben.
Der deutsche Titel seines jüngsten Romans, Prisoners, betont den negativen Aspekt der Figuren, der amerikanische Originaltitel den positiven. Während hier noirish die Gefangenschaft aller betont wird, besagt die amerikanische Redewendung The man who came uptown, dass jemand aus dem Knast freigekommen ist. Gefangen oder frei sein – das ist letztlich eine Frage der individuellen Entscheidung, in Pelecanos‘ Roman jedenfalls.

Er erzählt, beeinflusst von eigenen Lesungen in Gefängnissen, die Geschichte des Häftlings Michael Hudson, der sich, geleitet von der charismatischen Lehrerin Anna, die Welt der Literatur als Welt der inneren Freiheit erschließt. Als Hudson dann tatsächlich frei kommt, dank der Machinationen des Privatdetektivs Phil Ornazian (ein falscher Freund: „Philos“ bedeutet im Griechischen „Freund“), muss er sich noch seine Freiheit in der Welt uptown zuerst moralisch und dann auch praktisch erkämpfen. Denn Ornazian hat ihn als Fluchtfahrer für seine Raubzügen gegen Kriminelle fest eingeplant. Michaels moralischer Zweifelskampf gibt Pelecanos die Gelegenheit, die Terrains des Verbrechens und seiner Ursprünge zu durchstreifen: Machismo, Existenzangst, Armut wegen Krankheit, Einsamkeit, Nazitum und Rassismus.
Ähnlich wie sein afroamerikansicher Kollege Walter Mosley verbindet Pelecanos das Spannende mit dem Erzieherischen: unaufdringlich problematisiert sein Roman, gewendet an Jugendliche, das Risiko einer Verbrecherkarriere. In einer Gesellschaft, in der systematisch soziale Minderheiten diskriminiert und kriminalisiert werden, kann dieser Appell an die individuelle Entscheidung lebensentscheidend wirken. Nebenbei ist Prisoners eine Hommage an die großen Autoren der (Kriminal-)Literatur: John Steinbeck, Charles Willeford, Elmore Leonard. Ein Kanon, in dem weibliche Autoren nicht vorkommen, wie Jon Michaud in einem instruktiven, kritischen Essay auf CrimeReads anmerkt.

Prisoners von George Pelecanos, einem der ganz Grossen der aktuellen amerikanischen Kriminalliteratur […] ist ein meisterhaft gebautes, vielschichtiges Werk. Ein harter und spannender Thriller, der sich neben brutaler Action mit grundsätzlichen Fragen zu Recht und Unrecht und Moral auseinandersetzt.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeiger)

Unsere Dauerchampions: Zum dritten Mal steht Liza Cody mit Ballade einer vergessenen Toten auf der Krimibestenliste.

Die Krimibestenliste August wird am Sonntag, den 4.8.2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt veröffentlicht, und ist online wiederzufinden unter www.faz.net/krimibestenliste
und www.deutschlandfunkkultur.de/krimibestenliste (ab heute).
Unter diesen Webadressen finden Sie immer die aktuelle Krimibestenliste.

Am Freitag, dem 2. August, gegen 8.20 Uhr  gab es wie immer einen Vorgeschmack auf die Krimibestenliste bei Deutschlandfunk Kultur.

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