Gerhard Beckmanns Meinung – Thor Kunkels „Endstufe“: Was Feuilletonredaktionen beim Schreiben über Verlagsvorgänge eigentlich wissen und bedenken müssten

Ist die – vermutlich von Thor Kunkel, dem Autor, initiierte – durch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die F.A Z. und das ARD-Kulturmagazin Titel Thesen Temperamente vor einer Woche ausgelöste „Debatte“ um den Roman Endstufe [mehr…] – trotz heutigem SPIEGEL-Artikel – bereits verrauscht?

Die seit Frank Schirrmachers Versuch, anlässlich Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ Suhrkamp verlegerisch Mores zu lehren, in deutschen Feuilletons fast schon Mode gewordene Anprangerei von Programmentscheidungen in renommierten Häusern ist – endlich – von Feuilletons selbst an den Pranger gestellt worden [mehr…].

Thor Kunkel hat für sein Werk, das im März bei Rowohlt erscheinen sollte, dessen Publikation dort in einem Konflikt mit Lektorat und Verlagsleitung über die Endfassung des Manuskripts in letzter Minute jedoch abgeblasen wurde, einen neuen Verlag gefunden: Es kommt nun [mehr…] im April, nur einen Monat später, bei Eichborn Berlin heraus.

Alles paletti?

Für Thor Kunkel gewiss.
Bei der Suche nach einem neuen Verlag hat ihm die mediale Aufregung bestimmt nicht geschadet. Möglicherweise hilft sie dem Autor und Eichborn auch, was den Einkauf des Romans durch den Buchhandel, das Echo in Presse, Rundfunk und Fernsehen bei Erscheinen des Romans und den anschliessenden Publikumserfolg betrifft. Warum nicht? So weit, so gut.

Für Rowohlt und die Verlage dagegen kaum.
So wie die Dinge in den Medien heute nun mal laufen, wird dieser „Fall“ beim nächsten „Skandal“ – er steht in Anbetracht der Reizthemenarmut und journalistischen Einfallslosigkeit in den Feuilletons und TV-Kulturmagazinen leider doch zu erwarten – schlicht und ergreifend einfach als ein weiterer Negativpunkt auf dem Kerbholz der Verlage mitgerechnet. So wie andere – sie seien hier zum letzten Mal aufgelistet – völlig unterschiedlich gelagerte und zu bewertende, teils berechtigte, teils den Verlagen direkt kaum anzulastende, teils äußerst fragwürdige oder falsche Vorwürfe gegen Suhrkamp (Benjamin Wilkomirski, Martin Walser, Ted Honderich und Arno Münster; gegen Hoffmann und Campe (Ulla Ackermann); die Andere Bibliothek und Eichborn (Anonyma, Asfa-Wossen Asserate); oder gegen Kindler (Nima Zamar). Dazu obendrein noch die neuartigen anwaltlichen bzw. gerichtlichen Interventionen gegen Random House Entertainment (Bohlen); Hoffmann und Campe (Hofmanns Grönemeyer-Biographie); Kiepenheuer & Witsch (Maxim Biller) oder Mare (Alban Nikolai Herbst). All das wird allzu oft allzu gern allzu leichtfertig zum besonderen und allgemeinen Schaden des Ansehens von Verlagen zusammengelumpt.

Darum ist es vielleicht nicht ganz überflüssig, auf ein paar grundsätzliche, wenngleich den Kultur- und Literaturkritikern womöglich langweilig erscheinende Gegebenheiten der Verlagsarbeit hinzuweisen, die sie, obwohl ihnen wahrscheinlich bekannt, verdrängen, wenn sie einmal nicht in die Geschichte passen, oder eben nicht kennen, wiewohl sie selbige, so die Herren denn über Verlagssachen zu schreiben haben, zum Beispiel durch Recherchieren in Erfahrung bringen könnten (und eigentlich müssten). Zugegeben, sie stehen da oft unter dem höllischen Druck tagesaktueller Schreibe, in mittlerweile (wie die Lektorate in den Verlagen leider schon seit längerem) personalmäßig ausgedünnten Redaktionen. Sollte sie das dann aber nicht vom übereifrigen Urteilen über die Arbeit anderer Institutionen und Menschen abhalten?

Lassen Sie uns mit dem Simpelsten beginnen, mit dem Eindruck, hier sei es bei Rowohlt völlig überraschend, viel zu spät zu einem plötzlichen Rückzieher gekommen. Der Roman war doch eben erst für März angekündigt worden: Skandalös. Aber hier liegt wohl ein Missverständnis vor.

Verlagsvorschauen sind ein brancheninternes Medium. Sie werden für den Buchhandel gemacht, damit er für die neuen Titel einer Saison zu disponieren vermag, damit er die Bücher vorrätig haben und verkaufen kann, wenn sie später erscheinen. Aus ähnlichem Grund werden sie auch an die Presse verschickt; damit die Redaktionen für ihre Arbeit frühzeitig disponieren können. Die Vorschauen sind also lediglich ein professionelles Arbeitsinstrument.

Sie werden darum – bleiben wir bei den Frühjahrsnovitäten – möglichst vor Weihnachten verschickt, d.h. Anfang Dezember gedruckt, weshalb die Informationsdetails zu den Büchern im Laufe des November ihre endgültige Form gewinnen müssen. Die dazu erforderlichen Vorbereitungen laufen ab Anfang Oktober auf Hochtouren. Die ihnen vorausgehenden Titel-, Programm- und Marketingentscheidungen wiederum werden ab Juni getroffen. Das bedeutet für eine Märzveröffentlichung einen Planungsvorlauf bis zu neun Monaten – eine lange Zeit..

Da sind längst nicht immer alle relevanten Manuskripte im Haus. Und die Lektoratsarbeit an den Frühjahrserscheinungen zieht sich, weil zeitlich schwer genau im voraus planbar, oft bis weit in den Januar hin. Das mag man kritisieren und bedauern. Es stellt natürlich ein gewisses Risiko dar. Aber das ist, aus vielen Gründen, zu denen u.a. die heutige Unterbesetzung der Verlagslektorate oder die Elastizität von Autoren und Übersetzern hinsichtlich ihrer Abgabeterme zählen können, nun einmal die Realität. Allfällige daraus resultierende Verschiebungen – sie sind so selten nicht – oder Annullierungen – da handelt es sich um recht rare Ausnahmefälle – sind ein Schaden für den Verlag, ein Ärger für den Buchhandel; möglicherweise beides für den Autor.

Alle irgendwie längerfristigen Planungen sind störungsanfällig. Das ist auch in der Buchbranche ein normales Problem. Warum sollte es, konnte es in diesem Fall Anlass zu einer öffentlichen Debatte bieten? Mussten die Feuilletons sich über einen Titel erhitzen, ein Buch beurteilen, das noch gar nicht erschienen ist? Selbst wenn sie, wie anscheinend die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und die F.A.Z. ein Manuskript des Werkes in Händen hielten? Ein Werk, das – zumindest nach Auffassung eines führenden deutschen literarischen Verlages – in dieser Form noch nicht veröffentlichungsreif war? Fällt die Beurteilung dessen, ob etwas veröffentlichungsreif ist oder nicht, und der Umstände, in denen es zwischen einem Autor und Verlag zum Dissens kommt, in den Aufgabenbereich von Literaturkritikern? Gewiss – falls es ein Kartell der Verlage gäbe, die sich untereinander absprächen, die Publikation eines Manuskriptes zu verhindern.

Ist das Ganze nicht wie ein absurder Versuch von Hähnen, das Morgenlicht herbeizukrähen? Spielen gewisse Literaturkritiker da nicht vielleicht die Rolle von agents provocateurs, um sich selbst einen Stoff zu beschaffen?

Die Diskussion um den Roman Endstufe wirft, die Arbeit von Autoren mit Verlagen betreffend, noch eine Reihe anderer, ganz konkreter Fragen auf. Dazu morgen mehr.

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.

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