Gerhard Beckmanns Meinung – Buchhändler und Leser brauchen bessere Waschzettel

Seit Mitte Dezember treffen täglich Lese-Exemplare von Romanen für die kommende Saison ein. Welche muss ich, was möchte ich lesen? In der Situation stehe ich – geht es Ihnen auch so? – immer wieder ziemlich hilflos da. Mut macht mir eine Nachricht aus Italien, wo etliche anderswo verloren gegangene Traditionen lebendig geblieben oder zumindest noch bewusst sind. Von dort bringen gleich drei Publikationen die Kunst und Bedeutung des Klappentextes in Erinnerung.

Roberto Calasso hat zum 40jährigen Jubiläum des herausragenden Verlages Adelphi, den er seit Jahrzehnten leitet, ein Büchlein mit seinen „Waschzetteln“ zu 100 bedeutenden Titeln seines Hauses veröffentlicht. Der palermitanische Verlag Sellerio hat einen Band mit den Klappentexten publiziert, die Leonardo Sciascia für die Bücher einer von ihm heraus gegebenen Reihe verfasste. Und der Einaudi Verlag überreichte, wie Henning Klüver im jüngsten Heft der Zeitschrift „Literaturen“ berichtet, seinen Freunden die Sammlung der Klappentexte von seinem einstigen leitenden Lektor Italo Calvino als Weihnachtsgabe.

Erste Frage: Warum werden die „Waschzettel“ –ihrer allzu oft ungenügenden Qualität nach zu urteilen – vor allem in unseren großen Verlagen so wenig ernst genommen? Sie sind schließlich die erste runde (und damit wichtigste) Information, die erste Einstimmung des potentiellen Lesers zu einem neuen, ihm unbekannten Titel (und Autor).

Zweite Frage: Welchen Zweck haben eigentlich die Waschzettel in der Form, wie sie heute gang und gäbe ist? An wen richten sie sich überhaupt? Bei literarischen Titeln vermitteln sie häufig den Eindruck eines Geheimcodes, der Außenstehenden, allen jenseits des elitären Lektoratszirkels den Zugang zum Werk verschließen soll. Bei Unterhaltungsromanen wiederum erwecken sie in sehr vielen Fällen den Eindruck, als ob sie von Werbeleuten aufgesetzt würden, die unter dem Zwang stehen, jede Eigenheit bis zur Unkenntlichmachung des Inhalts wegzuschleifen – lieber die fünf bis zehn Prozent der potentiell interessierten Leserschaft als womöglich die 85 Prozent desinteressierter Wenig- und Nichtleser zu ignorieren, die irgendeine Besonderheit stören könnte. Calasso, Sciascia und Calvino erinnern daran, dass Klappentexte ein verlegerisches Instrument sind, damit ein Buch seine Leser und die Leser ihr Buch finden. (Darin liegt immerhin auch der Ausgangspunkt für die noch immer wirksamste Werbung: die Mundpropaganda.)

Drittens: Natürlich, Roberto Calasso ist, abgesehen von seiner Verlegertätigkeit, auch ein begnadeter Schriftsteller. (Auf Deutsch sind seine Werke erschienen bei Suhrkamp, Insel, Hanser sowie btb.) Leonardo Sciascia – hier zu Lande vor allem bei Zsolnay, dtv, Aufbau und Ullstein – und Italo Calvino – in Übersetzung bei Hanser und dtv – sind Autoren von Weltgeltung, die ein breites Publikum zu fesseln vermögen. Ihre Kunst des Formulierens mag für die üblichen Klappentexter unerreichbar sein – doch ein wesentliches Moment des Schaffens von erfolgreichen Schriftstellern wie Werbern, nämlich überzeugend Interesse zu wecken, müsste eigentlich in allen „Waschzetteln“ spürbar werden.

In einer Kolumne des Londoner „Guardian“ hat übrigens der britische Star-Autor Terry Pratchett Anfang Dezember seinen schreibenden Kollegen empfohlen, schon im Verlauf ihrer Arbeit an einem neuen Buch den Waschzettel zu verfassen. „Ein Schriftsteller sollte nie zu stolz sein, den Klappentext selber zu schreiben. Den Kern, das Herz eines Werkes in weniger als hundert Wörtern“ – also in rund 600 Zeichen bzw. zehn MS-Zeilen – „auszudrücken, ist für die Fokussierung auf die Arbeit sehr hilfreich.“ Ich bin überzeugt, dass es auch beim Lektorieren eines Manuskripts von großem Nutzen sein könnte. Wie für die Gespräche über ein Buch mit Marketing, Vertrieb, Werbung und Pressenabteilung, die ja nicht erst fünf Minuten vor der Vertreterkonferenz einsetzen sollten: Titel, die im Verlag selbst larifari behandelt werden, können in der Regel auch dem Sortiment und dem Publikum nicht überzeugend vermittelt werden. Wenn ein Klappentext die Buchhändler, Journalisten und Kritiker nicht von der Notwendigkeit einer Lektüre des Lese-Exemplars überzeugen kann – ja, wie soll er denn später „Endkunden“ dazu bewegen können, für solch ein Buch auch noch Geld auszugeben?

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.

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