Veranstaltungen Frankfurt: Bilder von der Shortlist-Lesung – nur Bodo Kirchhoff fehlte

Shortlist-Titel

Gestern Abend fand im Literaturhaus Frankfurt zum neunten Mal die „lange Nacht der kurzen Liste“ statt – fünf der sechs für den Deutschen Buchpreis Nominierten waren gekommen. Literaturhausleiter Hauke Hückstädt begrüßte das Publikum und entschuldigte Bodo Kirchhoff, der sich im Ausland aufhalte. Er werde am 5. Oktober im Literaturhaus zu Gast sein.

Kulturdezernentin Ina Hartwig dankte den Autoren, dass sie sich Zeit für diese Lesung genommen hatten, und der Jury für ihre Arbeit – in diesem Jahr waren 156 Romane aus 98 Verlagen gemeldet worden. „Der Deutsche Buchpreis ist eine Mischung aus Herzblut und Kalkül“, urteilte Hartwig.
Außerdem verwies sie darauf, dass der Preis zum zwölften Mal vergeben wird. Die Shortlist-Lesung, eine Idee von Sonja Vandenrath, Leiterin des Fachbereichs Literatur beim Kulturamt, gibt es seit 2008.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, unterstrich, dass diese Lesung eine außergewöhnliche Veranstaltung sei: Nach drei bis vier Minuten sei sie online ausverkauft gewesen. „Man sollte über einen Anbau für das Literaturhaus nachdenken“, scherzte er.

Der Deutsche Buchpreis sei etwas Ungeheuerliches, weil behauptet wird, den besten Roman des Jahres zu küren. „Im Grunde zeichnen wir die deutsche Romanliteratur aus – damit bleibt das Genre im Gespräch“, sagte Skipis. Er betonte, dass es allen in der Buchbranche Tätigen darum gehe, einen relevanten Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft zu leisten.
Außerdem verwies er auf die wichtige Arbeit der Verleger und nannte sein Lieblingsbeispiel Kurt Wolff: „Er veröffentlichte Franz Kafka aus Überzeugung, obwohl er kaum Bücher von Kafka zu dessen Lebzeiten verkaufte.“
Deutschland sei der zweitgrößte Buchmarkt der Welt – das sei nur möglich, weil es in Deutschland Publikations- und Meinungsfreiheit gäbe. „Schauen Sie auf die Karte von Reporter ohne Grenzen. Da gibt es nicht so viele Länder, in denen Presse- und Meinungsfreiheit hohe Güter sind.“

Den Shortlist-Reigen eröffneten Moderator Gert Scobel und André Kubiczek. Sie sprachen über Skizze eines Sommers, erschienen im Rowohlt Verlag, Berlin. Passend zum verregneten Samstag las Kubiczek eine Passage zur Wetterlage. „Wie viel André steckt im René des Romans?“, wollte Scobel wissen. „Ein bisschen mehr als bei den anderen Protagonisten“, verriet Kubiczek. Er habe das Buch in vier Monaten wie in einem Rausch heruntergeschrieben. „Es war so, als ob ich noch einmal jung wäre“, bekannte der Autor. „Melancholie liegt als Leitmotiv über dem Leben des Helden“, stellte Scobel fest. Sei das typisch für die DDR gewesen? „Wenn man die richtige Musik gehört hat und die richtigen Klamotten trug, war Europa im Jahr 1986 ziemlich gleich“, entgegnete Kubiczek.
Der Roman sei auch eine Playlist – wieso?, fragte Scobel. „Ich hatte eine riesige Plattensammlung, das ist wie ein Tagebuch. Die Jungs haben damals Baudelaire gelesen, Rebecca las Heiner Müller – sie wuchs in einem anderen Umfeld auf. „Baudelaire war einfach ein dekadenter Gegensatz zur befohlenen Arbeiter- und Bauernliteratur“, erklärte Kubiczek.
„Ich wollte perfekte Momente der eigenen Jugend bannen, deshalb habe ich das Buch geschrieben.“

Die zweite Runde bestritten Moderatorin Sandra Kegel und Reinhard Kaiser-Mühlecker, im Mittelpunkt stand Fremde Seele, dunkler Wald, S. Fischer Verlag. Auf die Frage, warum er sich mit diesem Landstrich in Oberösterreich beschäftige, antwortete Kaiser-Mühlecker: „Man kann sich nicht aussuchen, worüber man schreibt. Es ist zwanghaft. Ich kenne die Gegend 20 Jahre lang und am besten. Ich versuche, diese Welt und diesen Menschenschlag darzustellen. Die Vergangenheit beschäftigt doch alle mehr oder weniger. Und Wiedererkennen ist schön beim Lesen. Neues zu entdecken natürlich auch.“
Das Gespräch gestaltete sich etwas zähflüssig, der Autor antwortete einsilbig. Veränderungen, so bemerkte er, seien ungemütlich – in seiner Heimat wie in Deutschland auch hätte sich in den vergangenen Jahren viel verändert.
Zu seiner Arbeitsweise sagte Kaiser-Mühlecker: „Ich schreibe ganz langsam, ohne Plan, muss den Fortgang ertasten.“ Warum er beim Titel auf Turgenjew („Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald.“) gekommen sei, begründete er lapidar: „Wenn ich schon klaue, dann muss ich auch hinschreiben, von wem.“ Mit einer Verehrung Turgenjews habe das nichts zu tun.

Alf Mentzer unterhielt sich anschließend mit Philipp Winkler über dessen Debütroman Hool, Aufbau Verlag. „Letztes Jahr sprach ich an gleicher Stelle mit Frank Witzel, wir stellten mit Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 den wohl bis dato längsten Titel auf der Shortlist vor. Ihr Titel ist dagegen der kürzeste, der je auf einer Shortlist stand“, leitete Mentzer das Gespräch ein. „Wie sind Sie denn auf dieses Thema gekommen?“, fragte der Moderator. „Ich interessiere mich für Dunkelzonen und Randgebiete, bin Fußballfan. Ich wollte wissen, wie man Hooligan wird, jeder im Roman hat andere Beweggründe.“ Anschließend wurde der Unterschied zwischen Hooligans und Ultras geklärt – beide Gruppen würden ja oft in einen Topf geworfen, erläuterte Winkler. Zur These, dass das Auftreten von Hooligans dem Platz des Vereins in der Bundesliga diametral entgegengesetzt sei, urteilte der Autor: „Naja, vom FC Bayern ist im Zusammenhang mit Hooligans nichts zu hören. Aber bei Dortmund ist das schon anders.“ Außerdem hätten Hooligans nichts mit der Jugendszene zu tun. Warum es Hools gäbe, beantwortete Winkler so: „Der Drang nach Vergleichbarkeit liegt im Menschen, der Drang nach Gewalt auch. Bei dem einen bricht das aus, bei dem anderen eben nicht.“ Der Protagonist Heiko Kolbe ist ein Außenseiter, der nicht ernst genommen wurde – außer von seinen Hooligan-Kumpels.

Noch einmal betrat Gert Scobel das Podium, nun im Gespräch mit Eva Schmidt über Ein langes Jahr, Jung und Jung, Salzburg – nach knapp 20 Jahren wieder eine Veröffentlichung der österreichischen Schriftstellerin. Warum es so lange gedauert habe, beantwortete Schmidt: „Ich bin vor dem Schreiben in die Wirklichkeit geflüchtet – und jetzt wieder zurück.“ Schreiben und Familie sei schwierig unter einen Hut zu bekommen. Außerdem habe sie gar nicht vorgehabt, ein Buch zu schreiben. Aber ihr Agent, den sie nicht persönlich kenne, habe in all den Jahren immer wieder angefragt, ob sie nicht etwas Neues geschrieben habe.
Aus 38 Episoden habe sich das Buch zusammengefügt. „Ich beobachte immer, hätte das auch gerne als Beruf“, bemerkte Schmidt. Beim Schreiben habe sie verschiedene Versionen probiert, aber: „Ich benutze keine Tricks … “ „ … ok., sagen wir Stilmittel“, insistierte Scobel, der sich als Leser von Schmidts Geschichten aufs Glatteis geführt fühle. „Wahrscheinlich muss man das Buch zweimal lesen, ich habe beim Schreiben nicht an den Leser gedacht“, entgegnete die Autorin. Ihre Protagonisten – das Wort „Figuren“ benutze sie nicht – würden im laufe des Schreibens zu Personen – ambivalent und gleichzeitig auf gewisse Weise sympathisch.

Zum Abschluss des Leseabends kam erneut Sandra Kegel aufs Podium und sprach mit Thomas Melle über Die Welt im Rücken, Rowohlt Verlag, Berlin. „Sie stehen nach 2014 zum zweiten Mal auf der Shortlist“, eröffnete die Moderatorin die Unterhaltung, „der Verlag hat sich nicht für ein Genre entschieden.“ „Ja, ich war dabei, das Buch hat eine autobiografische Linie und fiktive Momente. Deshalb passt es eigentlich in keine Gattung. Die Frage für mich war, wie ich das Licht des Erzählens auf das Buch werfe“, kommentierte Melle. „Ich wollte die Nebengeschichten meiner Protagonisten, die beiläufig etwas von mir erzählten, loswerden.“ Der Vergleich mit Anton Reiser, einem Ende des 18. Jahrhunderts erschienenen psychologischen Roman von Karl Philipp Moritz, sei zutreffend.
Melle habe „mit nüchterner Distanz zu mir selbst“ mit dem Schreiben begonnen, „der Erzählmodus ist für mich ein Schutzanzug“, erläuterte er, „der Einstieg in das Buch ist die Rampe für den Leser in eine Welt der Ungeheuerlichkeiten“. Bewusst habe Melle literarische Mittel eingesetzt. „Es ist ein Buch für mich und für andere, von Anfang an habe ich an ein abstraktes ‚Du’ gedacht.“
Zunächst habe Melle nur das Buch herausbringen und keine Interviews dazu geben wollen. „Das gelingt aber nicht, wenn man ein Tabu brechen will“, erklärte er seine revidierte Entscheidung.

Die Shortlist-Bücher kommen in diesem Jahr weniger voluminös daher, die Jury musste „nur“ jeweils zwischen 212 und 384 Seiten lesen.
Wer den Deutschen Buchpreis 2016 erhält, wird am Messevorabend, 17. Oktober, im Kaisersaal im Frankfurter Römer bekannt gegeben.

JF

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