Trends, Pläne, Programme Tim Jung im Sonntagsgespräch über die Bedeutung von Erich Kästner und die Chancen von Verlagen in Zeiten von Netflix

Tim Jung: „Je mehr mediale Angebote uns umflirren, desto besser lässt sich das Buch als verlässlicher Garant für Sinn, Wert und Substanz in Szene setzen“ (c) Frank Krems

Seit Oktober erscheinen auch alle Kästner-Kinderbücher in neuer Ausstattung exklusiv bei Atrium – das war Anlass für Fragen an Tim Jung, den Verlagsleiter von Atrium und Arche:

Wie kommt es, dass jetzt auch alle Kästner-Kinderbücher ab dem 1. Oktober bei Atrium erscheinen?

Tim Jung: Atrium ist der Erich Kästner Verlag. Das ist keine Marketingfloskel, sondern ein Fakt mit historischen Wurzeln. 1935, nachdem die Nazis Erich Kästner als Autor verboten und seine Bücher verbrannt hatten, versuchte sein damaliger Verleger Kurt Maschler, Kästner dazu zu bringen, Deutschland zu verlassen. Kästner entschied sich dafür, zu bleiben, um später Zeugnis ablegen zu können, außerdem wollte er seine alte Mutter nicht zurücklassen. Maschler fasste daraufhin einen Entschluss, den er später einmal so formulierte: „Da ich Kästner nicht überreden konnte zu emigrieren, emigrierte ich seine Bücher.“ Maschler fuhr 1935 also in die Schweiz, um dort einen neuen Verlag zu gründen, mit dem alleinigen Zweck, Kästners Werk vor den Nazis zu bewahren. Benannt hat er seinen damals neuen Verlag nach einem großen Berliner Kino: Atrium. Seitdem liegen die Weltrechte an allen Büchern von Erich Kästner beim Atrium Verlag. Nachdem Kästners Kinderbücher jahrzehntelang in Lizenz bei Dressler erschienen sind, ist in Absprache mit dem Dressler Verlag das Gesamtwerk von Erich Kästner seit dem 1. Oktober 2018 wieder komplett bei Atrium beheimatet. Erich Kästner ist damit in gewisser Weise nach Hause gekommen, was uns jetzt die Möglichkeit gibt, sein Werk bei Atrium in seiner Gesamtheit zu denken und zu pflegen.

Die Kinderbücher erscheinen bei Atrium nun in neuer Ausstattung. Warum?

Die Zeit war reif für einen Neuauftritt. Die Neuausgaben, die jetzt bei Atrium erscheinen, zeigen Kästners – markante und zugleich sehr gut lesbare – Unterschrift in wechselnden Farben auf dem Einband. Die Illustrationen von Walter Trier und Horst Lemke heben sich vor einem jetzt weißen statt gelben Hintergrund leuchtend ab. Und natürlich drucken wir alle Kästner-Bücher ausschließlich auf holzfreiem Papier. Mit diesem Neuauftritt ist etwas Besonderes gelungen: Die Gestaltung lehnt sich stark an die Originalausgaben aus den 30er Jahren an und wirkt zugleich erfrischend modern. Bei der Gelegenheit haben wir übrigens auch die Preise modernisiert, was beim Kunden auf Verständnis und im Handel auf großes Lob gestoßen ist.

Sie haben also Kästner neu verpackt.

Richtig, aber natürlich belassen wir es nicht dabei. Neben den Graphic Novel-Umsetzungen der fabelhaften Isabel Kreitz erscheinen bei Atrium nun auch – und das ist eine Sensation – ausgewählte Kästner-Kinderbücher im Vorleseformat komplett neu illustriert. Den Startschuss dafür geben wir mit der Neubebilderung von Erich Kästners Der kleine Mann, mit der wir den großartigen Hamburger Illustrator Kai Würbs beauftragt haben.

Erich Kästner ist aktuell auch kommerziell der erfolgreichste deutsche Klassiker. Wie ist das zu erklären?

Erich Kästner ist aus verschiedenen Gründen ein besonderer Glücksfall: Kaum ein anderer deutscher Autor hatte so viele große Talente: Kästner wurde mit seinen Kinderbüchern wie Emil und die Detektive oder Das doppelte Lottchen weltberühmt, hat aber auch einen fulminanten Roman wie Fabian geschrieben, den der hervorragende Kästner-Kenner Sven Hanuschek 2013 bei Atrium in der unzensierten und ungekürzten Urfassung unter dem Titel Der Gang vor die Hunde herausgebracht hat. Hinzu kommt Kästners Lyrik, die die Jahre nicht nur unbeschadet überstanden hat, sondern heute sogar wieder brandaktuell ist. Kästners Lyrische Hausapotheke war im ersten Halbjahr 2018 der bestverkaufte Lyrikband im deutschen Sprachraum. Seine Kindheitserinnerungen Als ich ein kleiner Junge war sind eine Klasse für sich. Dazu ein Theaterstück wie Die Schule der Diktatoren oder Kästners unverwüstliche Komödie Drei Männer im Schnee. Und schließlich unsere Ausgabe von seinem geheimen Kriegstagebuch Das Blaue Buch, das in diesem Frühjahr bei Atrium erschienen ist. Damit ist es uns gelungen, Erich Kästner 44 Jahre nach seinem Tod auch noch zu einem Top-Ten-Sachbuchbestseller zu machen.

Kurz und gut: Kästner ist ein Autor für die ganze Familie, dazu ein Autor mit Haltung, der uns – gerade heute! – enorm viel zu sagen hat. Trotz all dem ist es aber nicht damit getan, einen solchen Autor einfach nur lieferbar zu halten. Es kommt entscheidend darauf an, ihn immer wieder aufs Neue mit Leidenschaft zu inszenieren, ideenreich ins Gespräch zu bringen und auf diese Weise schließlich auch eine neue Generation an ihn heranzuführen.

Wie groß ist denn der Kästner-Anteil am Atrium-Umsatz?

Groß, aber nicht so groß, wie man vielleicht vermuten würde. Das liegt daran, dass wir in den vergangenen Jahren neben Erich Kästner ein äußerst erfolgreiches Krimi-Segment bei Atrium etabliert haben, wo mit Mark Billingham, P.D. James, Donato Carrisi, Jenny Rogneby, Hideo Yokoyama, Anna Grue oder aktuell Chan Ho-kei mit seinem Ausnahmekrimi Das Auge von Hongkong große internationale Bestsellerautoren erscheinen, deren Krimis aus der Masse herausragen. Hier verbindet sich Qualität mit Verkäuflichkeit, wobei wir immer wieder die Erfahrung machen, dass es sich auszahlt, wenn man nicht versucht, vermeintliche Erwartungen zu erfüllen, sondern das Publikum stattdessen beherzt überrascht. Wobei wir uns mit den Überraschungen nicht auf den Krimibereich beschränken.

Heißt das, Sie haben noch weitere Pläne mit Kästner? 

Von Erich Kästner stammt der Satz: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!“ Dieser Satz ist uns eine Verpflichtung, in Zukunft bei Atrium auch neue Kinderbücher im Geiste von Erich Kästner zu machen. Nachdem im vergangenen Herbst bei Atrium bereits vier neue Pu-der-Bär-Geschichten erschienen sind, folgen im kommenden Frühjahr Mary Stewarts Der verhexte Besen, ein englischer Klassiker, genial übersetzt von Henning Ahrens. Dazu die Wiederentdeckung eines echten Schatzes aus dem Jahr 1930: Das Wunderbauto von Olga Gabrielli und Hans Striem mit Illustrationen von Walter Trier.

Wir hatten nach Ihren Plänen mit Kästner gefragt…

… ja, auch Erich Kästner selbst wird bei Atrium in Zukunft natürlich immer wieder und manchmal auch auf durchaus überraschende Weise in Erscheinung treten. Wir verfolgen dabei eine sehr langfristig angelegte Strategie, bei der ganz entgegen dem allgemeinen Trend auch die Backlist eine wichtige Rolle spielt.

Sie sehen in diesem Ansatz auch eine Möglichkeit, der medialen Konkurrenz, die der ganzen Branche zu schaffen macht, zu begegnen?

 

Unbedingt. Wobei es grundsätzlich erst einmal darauf ankommt, nicht immer nur zu jammern, dass die Leute so viel Zeit mit Facebook und Netflix verbringen, sondern diese Entwicklung auch als Chance für das Buch zu begreifen. Helge Malchow stellte unlängst klar, dass das Aufkommen neuer Medien das Buch selbst nicht in Frage stellt. Ich würde dabei noch einen Schritt weiter gehen: Ich bin der Meinung, dass das Buch tatsächlich das Maß der Dinge ist, an dem sich alle anderen Medien messen lassen müssen. Und je mehr mediale Angebote uns umflirren und oft genug ja auch nerven, desto besser lässt sich das Buch als verlässlicher Garant für Sinn, Wert und Substanz in Szene setzen. Diese Chance wird von der Branche insgesamt allerdings noch viel zu wenig genutzt. Trotzdem besteht kein Anlass zu verzagen, im Gegenteil!

Die Fragen stellte Franziska Altepost

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