Literaturpreise Thomas Melle wird 44. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim

Die traditionelle Ammes-Schneider-Lesung in Erinnerung an Annemarie Schneider, Frau von Franz Joseph Schneider, der 1974 den ersten deutschen Stadtschreiber-Preis initiierte, fand gestern Abend vor der Schelmenburg in Bergen-Enkheim statt.

Jury-Mitglieder Sherko Fatah, Adrienne Schneider, Renate Müller-Friese, Ulrich Sonnenschein und Charlotte Brombach

Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese begrüßte die Gäste zur Lesung, die erstmals im Freien, auf einer extra zum Kultursommer errichteten Bühne, veranstaltet wurde. Auf ihr hatten deutlich mehr Interessierte Platz als in der benachbarten Buchhandlung Bergen erlesen. Buchhändlerin Anna Doepfner hatte nicht nur einen Büchertisch, sondern auch Essen und Getränke mitgebracht. Ihre Vorgängerin Monika Steinkopf hatte sich die Lesung nicht entgehen lassen und war ebenfalls unter den Gästen.

Eine weitere Novität bestand in der Auswahl der Texte; in diesem Jahr kamen die im zweiten Teil vorgetragenen Passagen ehemaliger Stadtschreiber nicht von den Juroren, sondern aus der örtlichen Leserschaft.

Zu Ehren des am 10. Juli 2017 verstorbenen Autors und Stadtschreiber-Jurymitglieds Peter Härtling trugen Juroren in der ersten Runde Texte dieses Autors vor. Renate Müller-Friese las die achte Fantasie aus dem Roman Verdi, 2015 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Charlotte Brombach setzte ihrem Auszug aus Alter John, 1989 bei Beltz und Gelberg veröffentlicht, eine persönliche Bemerkung voran. „Peter Härtling war der erste Autor, den ich bei einer Lesung erlebte. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, später einmal gemeinsam mit ihm in der Stadtschreiber-Jury zu sitzen.“

Ulrich Sonnenschein erinnerte sich an die gemeinsame Arbeit mit Härtling beim Hessischen Rundfunk. Es sei üblich gewesen, das vor der Radiosendung Literatur im Kreuzverhör eine Flasche Wein bereit stand. Irgendwann strich der Sender dieses Getränk. „Peter Härtling hat das nicht verstanden und brachte ab sofort selbst eine Flasche Wein mit“, erzählte Sonnenschein, der anschließend den Brief an meine Kinder vortrug. Darin wurde auch eine herzliche und freundschaftliche Begegnung zwischen Peter Härtling und Peter Bichsel geschildert. Dazu erklärte die nachfolgende Vorleserin Adrienne Schneider, dass sie versucht habe, beim Besuch Bichsels in Bergen-Enkheim – er war vor vier Wochen in der Buchhandlung Bergen erlesen zu Gast – ein Treffen zwischen beiden Autoren zu arrangieren. „Aber Peter Härtling war schon zu krank, so dass eine Begegnung leider nicht mehr zustande kam“, sagte Schneider. Sie trug im Anschluss Härtlings Antrittsrede als vierter Stadtschreiber 1977 vor sowie das Gedicht Der letzte Elefant.

In der zweiten Runde las der amtierende Stadtschreiber Sherko Fatah die Geschichte Der Neger im Lokal von Nicolas Born (Stadtschreiber 1978). „Ich weiß, die Bezeichnung ist politisch nicht korrekt. Aber die Geschichte ist 1983 erschienen.“ Und zwar im Band Täterskizzen bei Rowohlt.

Die nachfolgenden Passagen hatten Leser vorgeschlagen. So trug Charlotte Brombach Ulla Hahns Gedanken zum Märchen Die kleine Meerjungfrau vor. Hahn war 1987 Stadtschreiberin. Adrienne Schneider las eine Erzählung von Ralf Rothmann, Stadtschreiber 1992.

Ulrich Sonnenschein freute sich über den Vorschlag Deutsche Dichterflora. Der Autor Fritz Schönborn alias Herbert Heckmann äußerte sich darin über Günter Kunert, respektive die Pflanze Kunertbiss. Kunert war 1983 im Stadtschreiberamt. Außerdem fanden Robert Gernhardts Gedicht Heut singt der Salamanderchor sowie sein Bergen-Gedicht viel Beifall. Gernhardt zog 1991 ins Stadtschreiberhaus ein.

Renate Müller-Friese las vom Verlust einer Bibliothek – Auszug aus Die Welt im Rücken von Thomas Melle, erschienen 2016 bei Rowohlt Berlin und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016. Bereits 2011 hatte Melle mit Sickster und 2014 mit 3000 Euro Shortlist-Platzierungen erreicht. Jetzt war klar: Thomas Melle wird der 44. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. Er bekommt neben dem Wohnrecht im Stadtschreiberhaus ein Preisgeld von 20.000 Euro. Der Preis wird traditionell am Freitag, 1. September, im Festzelt auf dem Berger Markt überreicht. Die Festrede wird Ahmad Mansour halten.

In der Begründung der Jury heißt es: „Thomas Melle, 1975 geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor viel gespielter Theaterstücke und übersetzt u.a. William T. Vollmann aus dem Amerikanischen … Im Roman Die Welt im Rücken wird mit großer Kunstfertigkeit und angemessen distanziert eine nicht kontrollierbare seelische Störung beschrieben. Entgegen den Erwartungen erzählt er weder plakativ noch larmoyant oder kokettierend von der Zerbrechlichkeit des Daseins, von flüchtigem Glück, manischer Euphorie und darauf folgenden Episoden sich auftürmenden Unglücks.“

Sicher kein Unglück ist die doppelte Ehre für den Autor: Er erhält nicht nur den Stadtschreiberpreis 2017/2018, sondern auch – wie gerade bekannt wurde – den mit 12.000 Euro dotierten Klopstock-Preis 2017 des Landes Sachsen-Anhalt.

JF

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