Lesetipps Reihe „Lyrik lesen – Gedichte im Gespräch“ erstmals in Frankfurt

Gestern Abend war es voll im schönen Saal der Historischen Villa Metzler am Frankfurter Mainufer. Während draußen das Museumsuferfest am kommenden Wochenende vorbereitet wurde, widmete man sich drin der Poesie.

Sonja Vandenrath vom Kulturamt Frankfurt begrüßte die Gäste: „Zum ersten Mal ist die seit 2016 bestehende Reihe Lyrik lesen in Frankfurt zu Gast. Wir wollen damit auch den Rausch des Festivalkongresses Fokus Lyrik, der im März in Frankfurt stattfand, wieder aufnehmen – der Saal ist voll, ein gutes Zeichen.“ Außerdem verwies Vandenrath auf die Bedeutung eines guten Kulturradios: „Der Mitveranstalter von Lyrik lesen und an diesem Abend unser Kooperationspartner – der Radiosender Deutschlandfunk Kultur – ist wichtig. Genauso wichtig ist hr2-kultur in Hessen und muss erhalten bleiben.“ Das Publikum stimmte dieser Forderung mit Beifall zu. Neben Deutschlandfunk Kultur und dem Kulturamt Frankfurt gehörte das Deutsche Literaturarchiv Marbach zum Veranstaltertrio.

Gregor Dotzauer, Jan Bürger, Barbara Wahlster

Im Podium sprachen die Literaturwissenschaftlerin Maren Jäger, der Literaturkritiker Gregor Dotzauer und Jan Bürger vom Literaturarchiv über neue Gedichtbände, Barbara Wahlster moderierte, Birgitta Assheuer rezitierte Passagen aus den einzelnen Büchern.

Die österreichische Debütantin Eva Maria Leuenberger stand mit ihrem Band dekarnation, im Droschl Verlag Graz erschienen, als Erste auf der Liste. Die Autorin beschreibt bildstark Natur in Bewegung und ihre Verbindung mit den Menschen. „Bereits der Titel ist eigentlich eine Zumutung für den Leser“, meinte Bürger. „Leuenberger legt Wert auf Ökonomie und arrangiert die Zeilen auf den Seiten“, sagte Jäger und zeigte das aufgeschlagene Buch dem Publikum. Bürger verwies auf die Einteilung in vier Zyklen und ergänzte, dass es zwischen den Versen oft schroffe Einschnitte gebe. „Wir als Leser legen das Fleisch um die Gedichte herum“, sagte der Experte. „Leuenberger geht einen weiten Weg mit schlichten Worten“, lobte Dotzauer. Assheuer las eine Passage aus dem ersten Zyklus Tal.

„Wie wirken denn diese Naturbeschreibungen?“, fragte Wahlster. „Innen und außen verschwimmen in der Wahrnehmung“, äußerte Dotzauer. „Die Autorin kommt vom Ich zum Wir“, fügte Jäger hinzu. Landschaftsräume würden sichtbar, Moorleichen tauchen auf. „Vielleicht ist der suggestive Sound streckenweise zu eindringlich“, wandte Jäger ein. Übrigens erweise der Klappentext der Autorin einen Bärendienst. „Man darf eben keine Angst vor Pathos haben“, sagte Bürger. „Leuenberger zitiert sämtliche wichtigen angelsächsischen Autoren“, erklärte Wahlster. „Diese Texte braucht man nicht“, meinte Dotzauer. „Leuenberger legt einen kleinen großen, fast ausschließlich weiblichen Kanon vor. Ob sie sich damit einen Gefallen tut, bleibt offen“, resümierte Jäger. Zum Abschluss trug Assheuer eine Passage aus Moor vor.

Anschließend erinnerte das Podium an Friedrich Achleitner, der im März 2019 gestorben ist. Bereits 2015 erschien bei Zsolnay der Band Wortgesindel als fünfter einer Werkgruppe. Achleitner, 1930 geboren, Architekt und als Schriftsteller Mitglied der Wiener Gruppe um H. C. Artmann und Gerhard Rühm, ist bekannt für Konkrete Poesie und Dialektgedichte. Achleitner nimmt die Sprache beim Wort, kritisch, skeptisch und immer liebevoll, resümierte das Podium. Assheuer las einen kurzen Text unter dem Titel Informationsmüll.

Als dritter Autor des Abends stand Gerhard Falkner im Fokus. Von ihm ist in diesem Jahr Schorfheide. Gedichte en plein air bei Piper erschienen. Der Autor, der einst Hölderlin korrigieren wollte und 1989 seinen Rücktritt vom lyrischen Schaffen verkündet hatte, hielt diesen Rücktritt elf Jahre lang durch. Und versuchte sich nun erneut an Naturlyrik. „Die Verse werden theoretisch flankiert und aufgeladen. Falkner will Naturgesetze auf neue Beine stellen“, schätzte Jäger ein. „Gedichte müssen für sich stehen. Falkner bringt jede Theorie dazu bei. Er gehört der zweiten Reihe der Romantiker an“, stellte Bürger fest. Ähnlich sah es Dotzauer: „Die gestörte Natur muss der Mensch nicht zusätzlich theoretisieren.“ Ein bisschen zu oberlehrerhaft vertraue der Autor zu wenig in die Kraft der Strophen, äußerte Bürger. Assheuer trug einen von 75 Texten mit der Überschrift Schorfheide vor.

Falk gehe mit den allergrößten Erwartungen ans Werk. Herausgekommen sind, wie Dotzauer formulierte, „hübsche Sprachfunde“ – deshalb werde er von vielen jungen Dichtern bewundert.

Birgitta Assheuer

Vogelwerk, eine ebenfalls in diesem Jahr im Wallstein Verlag publizierte Novität, ist der jüngste Band von Henning Ziebritzki. „Lyrik ist nah an der Musik, an die diese 52 sehr feinen Beschreibungen von Vögeln erinnern“, lobte Bürger. Der Autor versuche, das Ich zur Außenwelt neu zu definieren, alles vom Schnabel bis zu den Füßen komme vor. Beispielhaft rezitierte Assheuer Mauersegler.

Kein Gegenwartsautor, aber eine neue Übersetzung wurde anschließend besprochen: Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire, übertragen von Simon Werle und 2017 bei Rowohlt herausgekommen. Dotzauer nannte die Übersetzung „sehr heutig“, Assheuer las Gespiegel. Ganz bestimmt ist das Buch ein Grund, sich wieder einmal Baudelaire zu widmen.

Der 1931 in New York geborene Jerome Rothenberg legte bereits 1974 Poland/1931 vor. 45 Jahre später erschien das Buch nun in der Reihe roughbook beim österreichischen Verleger Urs Engeler. Rothenberg beschrieb ein imaginäres Polen, das er erst viel später bereiste. Jäger fand ein „reiches und hybrides Formenspektrum“ in den Zeilen. „Rothenberg war Ethnopoet, das darf man nicht vergessen“, fügte Dotzauer hinzu. „Man sollte seine Kenntnisse des Judentums nicht negieren“, ergänzte Bürger. Assheuer trug Wortevent vor.

Warum aber erscheint ein solches Buch so spät auf Deutsch? „Dass es überhaupt auf den deutschsprachigen Markt kommt, ist dem Übersetzer Norbert Lange zu verdanken“, erklärte Jäger. Bereits 2014 wurden in der Zeitschrift Schreibheft des Verlags Das Wunderhorn erste Gedichte von Rothenberg veröffentlicht. „Von großen amerikanischen Dichtern gibt es in Deutschland kaum etwas“, bemerkte Dotzauer. „Mit Rothenberg habe ich einen Autor entdeckt, dessen Texte mich ansprechen. Vielleicht braucht man Zeit für eine andere Betrachtung des Judentums“, äußerte Bürger. Dotzauer fühlte sich bei Rothenberg an Chagall erinnert. „Aber seine textgenerativen Prinzipien störten mich manchmal“, sagte der Kritiker. Jäger spürte hinter Rothenbergs Werk Utopie.

Der kurzweilige Abend stieß beim Publikum auf viel Interesse. Am Büchertisch hatten die Zuhörer Gelegenheit, sich mit Lektüre einzudecken, um sich später intensiver mit der einen oder anderen Buchempfehlung zu beschäftigen.

Die Sendung ist am 25. August 2019 kurz nach 22 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur zu hören.

JF

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