Literaturpreise Madeleine Thien erhält LiBeraturpreis

Madeleine Thien, Juergen Boos

Am gestrigen späten Nachmittag wurde auf dem Zentrum Weltempfang in Halle 3.1. der diesjährige LiBeraturpreis an die Schriftstellerin Madeleine Thien verliehen.

Die vor 28 Jahren ins Leben gerufene Initiative LiBeraturpreis vergibt die Auszeichnung zum dritten Mal direkt auf der Frankfurter Buchmesse. Der Publikumspreis zeichnet Werke von schreibenden Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder der arabischen Welt aus.

„Mein Herz ist in Feststimmung“, begrüßte Anita Djafari, Geschäftsführerin von Litprom, der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die zahlreichen Gäste im Weltempfang. „Eine Idee von vor fast 30 Jahren ist heute noch so frisch wie damals.“ Noch immer seien Frauen in der literarischen Welt gerade dieser Länder unterrepräsentiert. „Beim Nobelpreis für Literatur, der seit 1901 vergeben wird, stehen gerade einmal 14 Schriftstellerinnen auf der Liste, zwei von ihnen – Nelly Sachs und Swetlana Alexijewitsch – wurden auch mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.“ Doch Djafari wollte keine Zahlenspiele veranstalten: „Die Förderung einer besseren Wahrnehmung von Autorinnen ist uns wichtig.“

Dabei habe müsse sich die Sichtweise von Litprom ändern: „Unser Augenmerk wird sich auf den globalen Süden richten“, verkündete die Geschäftsführerin und forderte: „Der LiBeraturpreis sollte in seiner Bedeutung die kleine Schwester des großen Friedenspreises sein.“

Claudia Kramatschek, stimmlich etwas angeschlagen und daher mit Teetasse auf dem Podium, hielt die Laudatio für Madeleine Thien. 2010 lernte Kramatschek die Autorin mit chinesisch-malaiischen Wurzeln kennen. „Die Romane von Madeleine Thien sind nicht zu denken ohne die Geschichten ihrer Eltern“, sagte die Laudatorin. Der Vater Thiens sehnte sich in dem neuen kanadischen Zuhause stets nach seiner Heimat, auch dieses Motiv kehre in Thiens Büchern immer wieder. „Madeleine Thien ist eine Spurensucherin und Fährtenleserin. In ihren Büchern kollidiert die große Geschichte mit den kleinen Geschichten.“

In ihrem jüngsten Roman Flüchtige Selen, erschienen 2014 bei Luchterhand, übersetzt von Almuth Carstens, erinnert Thien an den Krieg der Roten Khmer in Kambodscha. Noch heute falle vielen Betroffenen das Sprechen über das damalige Geschehen schwer. „Die Forderung nach überfälliger Gerechtigkeit schwingt im Buch mit“, sagte Kramatschek. So verbinde sie in Flüchtige Seelen die Geschichte mit der Gegenwart, sind ihre Protagonisten, die im Kanada der Jetztzeit leben, wo auch Thien 1974 geboren wurde, auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit. Grundlegende Fragen werden im Roman von Neurowissenschaftlern angesprochen. „Ästhetische Distanz und empathische Nähe kennzeichnen die Sprache des Buches“, würdigte Kramatschek. Thien zeichne ein komplexes Panorama der Zeit um 1975 in Kambodscha.

„Es ist mehr als bloß eine gute Geschichte“, bemerkte die Laudatorin, „der Leser wird in diese Gedankenwelt hineingezogen. Der Roman ist präzise und zugleich allgemeingültig.“

Madeleine Thien bedankte sich für die mit 3000 Euro dotierte Auszeichnung: „Es ist eine große Ehre für mich und für ein stilles Buch.“ Das Preisgeld möchte sie mit ihrer Übersetzerin Almuth Carstens teilen.

In der anschließenden Runde diskutierten Claudia Kramatschek, die Lektorin Christine Popp und die Autorin.
„Ich war beim ersten Lesen beeindruckt von der Klarheit im Sehen, Denken und in der Sprache. Es war für mich überzeugend“, bekannte Popp. Thien wandte ein: „Keine Sprache kann wiedergeben, welche Gräuel in Kambodscha stattgefunden haben. Nur eine Verbindung von Fiktion und Dokumentation kann den Blick weiten.“ Der Originaltitel Dogs at the Perimeter sei nicht ins Deutsche übersetzbar, deshalb habe man sich für einen völlig anderen Titel, der dem Inhalt entspricht, entschieden.

Madeleine Thien war selbst in Kambodscha, um vor Ort zu recherchieren. Sie stellte nicht den Terror, sondern die Traumata der Menschen in den Mittelpunkt: „Die Kenntnisse über den Genozid in Kambodscha sind nicht sehr groß im Westen“, sagte die Autorin. Dass zwei Millionen Menschen starben, wisse kaum jemand. „Die Schwierigkeit war, zu beschreiben, dass, solange man lebt, auch die Gewalt im Innern weiter besteht“, erklärte Thien.

„Alle Bücher von Madeleine Thien sind Erinnerungsbücher. Erinnerung kann zerstören, aber auch Hoffnungen wecken“, bemerkte Christine Popp.

„Ich bin mit verschiedenen Sprachen aufgewachsen, zwischen den Kulturen. Doch nicht nur die Reichen haben viele verschiedene Häuser – auch die Menschen, die mit verschiedenen Kulturen und Sprachen umgehen, sind auf diese Weise reich und in verschiedenen Räumen zuhause“, erklärte Thien.
„Für mich ist Madeleine Thien eine kosmopolitische Autorin. Heute ist ihr Buch aktueller denn je“, stellte Popp fest.

Der Verlag Luchterhand hat bereits den neuen Roman, in dem es um den Einfluss der Musik in China von den 1970er Jahren bis zum Massaker auf dem Tian’anmen-Platz 1989 geht, bereits angekauft.

Auf Deutsch liegen bislang drei Bücher von Madeleine Thien vor.

JF

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