Krimibestenliste April 2019: „Willnot“ auf Platz 1

Die aktuelle Krimibestenliste mit den zehn besten Krimis gibt es hier zum Ausdrucken. An der Spitze der Krimibestenliste April 2019 finden Sie neu auf  Platz 1: Willnot von James Sallis

Willnot verhält sich zur normalen Krimikost wie Molekularküche zu Omas Rezeptbuch. „Botschaften? Nicht entzifferbare Signale? Oder Zufall – wie der Großteil des Lebens.“ Lamar Hale, Landarzt und Ich-Erzähler von Willnot, redet zwar nur von Anrufnotizen auf seinem übervollen Todo-Zettel. Aber er redet so darüber, wie er über alles redet, als ginge es immer darum, alles zu verstehen. Oder zumindest einzusortieren.
James Sallis, 1944 in Helena, Arkansas geboren, wohnhaft in Phoenix, Musiker, Poet, Kritiker, Autor fordert von seinen Studenten, „so viel wie möglich vom Leben“ in jede Szene zu packen, und reklamiert dieses Verfahren auch für sich selbst.
Weshalb Willnot zwar mit dem Fund von vier in einer Grube verbuddelten Leichen beginnt, diese werden dann aber zu etwas, was auf Lamar Hales Todo-Zettel stehen könnte. In diesem Buch, das beinahe wie das Tagebuch des Landarztes daherkommt, nur komprimierter, gibt es viel mehr Tote, und es gehört zu Sallis‘ Kunst, die natürlichen wie die unnatürlichen genauso unerklärlich zu machen wie die aufgefundenen und verbuddelten.
Ist eine Diagnose bereits eine Erklärung? Letztlich sagt sie so wenig oder viel wie die These, dass Lamars Kater Dickens etwas Falsches gegessen hat und deshalb ins Bett kotzt.
Warum „Bobby“ Brandon Lowndes, der mit sechzehn ein Jahr lang Lamar Hales Patient war, nach Willnot zurückgekehrt ist, warum er Kontakt zu dem hochbegabten jungen Einzelgänger Nathan aufnimmt, warum er angeschossen wird, ob dies mit seinem Background als militärischer Scharfschütze und mit den damit verbundenen Tötungen zu tun hat – wir erfahren es nicht, weil es Lamar nicht erfährt. Er nennt Bobby „einen dieser merkwürdigen Spiegel, mit denen das Leben einen manchmal konfrontiert.“
Das trifft auf Willnot auch zu, mit dem Unterschied, dass Willnot von Sallis zu dem Zweck konstruiert wurde, ein merkwürdiger Spiegel zu sein.

Kolja Mensing hat herausgefunden, dass in diesem Spiegel ein schwarzes Loch verborgen ist, das die Gefühle der Bewohner in schwarze Materie verwandelt. Lesen oder hören Sie seinen Beitrag in Deutschlandfunk Kultur, der wie immer am Freitag, den 1. März, vor Veröffentlichung der Krimibestenliste gesendet wurde.

Neu auf der Krimibestenliste April stehen insgesamt vier Titel. Diesmal sind es je
2 amerikanische, 1 belgischer und 1 mexikanischer. Mit zusammen 1814 Seiten. Eine weibliche Autorin, drei männliche Autoren. Neu sind:

Auf Platz 7: Kongo Blues von Jonathan Robijn

Der 1970 in Gent geborene Jonathan Robijn hat Soziologie und Psychologie studiert und für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet. Im Zuge dieser Arbeit ist er auf ein fieses Element des besonders barbarischen belgischen Kolonialismus gestoßen: Nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie 1960 wurden die gemischtrassigen Kinder, die die Kolonialherren nebenbei gezeugt hatten, aus den meist von Klerikern betriebenen weiß-katholischen Erziehungsheimen nach Belgien verfrachtet und dort zu Adoption freigegeben. „Man musste ja vermeiden, dass die belgischen Gene verwildern, sobald die Zivilisation wieder verschwand.“
Dies ist auch der nach und nach in Kongo Blues aufgedeckte biografische Hintergrund des schwarzen Jazzmusikers Morgan, der weder weiß, wie er richtig heißt, noch mehr als verschwommene Erinnerungen an seine biologische Mutter und ein Kinderleben in der Savanne hat. Von dieser (ver-) störenden Geschichte will er nichts wissen, und auch von seiner wohlhabenden, royalistischen belgischen Adoptivfamilie nichts. Nach dem Tod seiner geliebten Frau und kongenialen Musikerin treibt er von Gig zu Gig, entwurzelt, mit der Welt nur durch den Faden schwarzer Jazzmusik und –einsamkeit verbunden.
Das, was den Roman von Kongo Blues von Jonathan Robijn interessant macht, ist die Erzählweise. Er beginnt zwar traditionell, indem Morgan eine junge Frau vor dem Erfrieren rettet und zu sich nach Hause nimmt. Aber dann geschieht nichts weiter. Sie lässt ihn an einigen Aspekten ihres Lebens teilhaben – kleidet ihn neu, gibt ihm von ihrem massenhaften Geld, verschafft ihm Jobs und Kontakte – bleibt aber emotional auf Distanz. Nichts geschieht, nichts berührt ihn, bis sie verschwindet. Erst dann beginnt Morgan, aufzuwachen und ihren Spuren nachzugehen und stößt auf das „größte Verbrechen“ (um Anne Goldmann zu paraphrasieren): seine Existenz.

„Robijn ist kein großer Stilist, aber er hat ein gutes Gespür für Ellipsen, und vor allem weiß er, dass der Reiz eines Romans in einer Ungewissheit liegen kann, die nicht verflogen ist mit der letzten Seite.“ (Peter Körte, FAZ)

„Nach und nach sammelt Morgan Hinweise auf eine Tragödie ein, die größer ist als er selbst. (…)Es ist fast eine Erleichterung, als die Polizei nach Simonas Verschwinden an Morgans Tür klopft und plötzlich ein internationaler Haftbefehl und ein konkretes Verbrechen im Raum stehen. Aus dem Identitätsdrama wird zuletzt dann doch noch: ein richtiger Kriminalroman.“ (Kolja Mensing, Deutschlandfunk Kultur)

Auf Platz 8: Lola von Melissa Scrivner Love

Als Drehbuchautorin und Producerin von TV-Serien weiß die 1980 geborene, in Los Angeles lebende Melissa Scrivner Love genau, wie man zum Vergnügen des Publikums, Figuren konzipiert und Spannungsbögen arrangiert. Mit Lola Vazquez hat sie in ihrem begeistert aufgenommenen Debüt die Frau erfunden, die dringend erwartet wurde: eine scheinbar unscheinbare, kleine, resolute Gangchefin, die mit heiterem Gemüt, wenig Selbstzweifeln und viel Tapferkeit tut, was sie tun muss. Ihren Lover umbringen, um selber Boss zu werden. Überhaupt zu töten oder auch nur Finger abzuschneiden, wenn es not tut. Sich selbst zum Faustpfand zu machen, wenn man anders an die überlegenen Kartellbosse nicht rankommt. Frauenklatsch und Gartenparties ertragen. Unschuldige Kinder aus den Fängen drogensüchtiger Mütter retten – da hat sie als Tochter genug persönliche Erfahrung.
Das ist witzig und flott, und hinter allen Grausamkeiten lauert die Hoffnung, Lola werde nicht nur die Ideale der Mittelschicht teilen, sondern bald in sie aufsteigen. Wenn da nicht die Kartelle, die Männer und die Staatsanwaltschaft wären.
Lola ist gewissermaßen die konsens-feministische, südkalifornische, vergnügliche Variante des Narrativs, dass Reichtum und Wohlstand auf Raub, Mord und geschickt eingesetzter Gewalt beruhen.

„Lola zeichnet Scrivner Love als gebrochene Figur: unerbittlich geworden durch ihre Geschichte, und doch liebevoll zu manchen Mitmenschen, sie erkennt das Leid, das Drogen bringen, macht aber trotzdem ihr Geschäft damit. Lola ist ein aufregender Thriller. Eine Fortsetzung folgt: In den USA ist soeben das Sequel American Heroin erschienen.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeiger)

Auf Platz 9: Jahre des Jägers von Don Winslow

2010-2015-2019. Das sind die deutschen, 2005-2015-2019 die amerikanischen Erscheinungsdaten von Don Winslows Kartell-Trilogie oder, wie es bei Droemer heißt, seiner Kartell-Saga.
„Würde man einen Durchschnittsbürger nach dem längsten Krieg fragen, den Amerika je geführt hat, würde er vermutlich Vietnam sagen, dann schnell Afghanistan korrigieren, wobei die richtige Antwort aber lautet: der Krieg gegen die Drogen. Fünfzig Jahre.“
So lautet einer der vielen zutreffenden Info-Blöcke, die Jahre des Jägers füllen. Fünfundzwanzig von diesen fünfzig Jahren hat Don Winslow an seiner Geschichte dieses Krieges gearbeitet. Personalisiert ist sie in Art Keller, der es vom Streifenpolizisten zum DEA-Chef gebracht hat, und in Adán Barrera, der es vom Sohn eines Drogenbauern zum mächtigsten Drogenboss schaffte. Barrera ist tot (wie er umkam, ist ein Mittel, mit dem Art Keller erpresst werden kann) und in Mexiko ein Heiliger.
Der dritte Roman der Trilogie umfasst die Jahre 2012 bis 2018, endet im Frühsommer nach der Amtseinführung von Präsident John Dennison, der als Rassist, Faschist „Immobilienmagnat und Reality-TV-Star“ kenntlich gemacht wird. Während in Mexiko Diadochenkämpfe um die Nachfolge Barreras toben, fädelt Keller, verwickelt in bürokratische Intrigen der Trumpisten in seiner eigenen Behörde, allerhand verdeckte Aktionen an, mit denen er die US-amerikanischen Geldhähne, Banken etc. treffen will, die die Nachfrage nach mexikanischen Drogen anheizen. Unter ihnen trifft er – oh Wunder! –  auf Dennisons Schwiegersohn, der ein großes Immobilienprojekt mit Drogenkrediten und Schwarzgeld der Kartelle vor der Pleite retten will.
Nichts ist ausgelassen im Panorama: Nicht die Crackhure, nicht der tapfere minderjährge Flüchtling aus Guatemala, nicht der Knastbruder und nicht der Drogenboss, der aus dem Knast sein Comeback organisiert. Jahre des Jägers ist eine enzyklopädische Erzählung.

Jenseits aller kontroversen literarischen Bewertung ist dieses Buch eine der vielen wohlgesonnenen flachen Breitseiten gegen Trump. Es ist Teil einer wachsenden literarischen patriotischen Front. Winslows Motivation gleicht der Attica Lockes: beide wollen aus Patriotismus die amerikanische Seele und den fortschrittlichen Teil der amerikanischen Geschichte nicht den Trumpisten überlassen.
Jahre des Jägers fällt argumentativ nicht hinter die öffentlich geäußerte Position Winslows zurück, der die Legalisierung der Drogen fordert und den Bau einer Mauer zu Mexiko für Bullshit hält.

Hanspeter Eggenberger hält Jahre des Jägers nicht nur für den Krimi der Woche, sondern den des Jahres: „Wie der Originaltitel sagt, handelt das Buch von Grenzen. Von der Grenze, an welcher der Präsident eine Mauer bauen will. Von Grenzen zwischen Gesellschaftsschichten. Und von emotionalen und moralischen Grenzen. Jahre des Jägers ist ein sensationeller Roman.“ (Zürcher Tages-Anzeiger)

Auf WDR 5 hat Ulrich Noller 12 Minuten über Jahre des Jägers gesprochen.

Auf Platz 10: Die Verschwundenen von Antonio Ortuño

2013, als der Treck der Tausende, die das Elend in Guatemala hinter sich lassen und in die USA wollen, noch weit in der Zukunft lag, hatte der 1976 in Guadalajara geborene Antonio Ortuño die Südgrenze Mexikos schon fest im literarischen Griff. In Die Verbrannten (Krimibestenliste 2015) geißelte er die Heuchelei und den kaum verborgenen Rassismus der mexikanischen Mittelschicht, die nichts mit den Armuts- und Repressionsflüchtlingen aus dem Süden zu tun haben will.

In Die Verschwundenen zeichnet er die gleiche Klasse als parasitäre Truppe von Erschlafften, personifiziert in der Bauunternehmerfamilie Flores und ihrer Entourage. Der Patriarch Don Carlos hat hochfliegende Pläne. Um weitab von Zentrum Guadalajaras ein Luxusghetto errichten zu können, lässt er die angestammten Einwohner der Siedlung vertreiben und die Widerständigsten ermorden. Aus dem pompösen Projekt, „Olinka“ genannt nach der Utopie eines schon wieder vergessenen Künstlers, wird außer einigen Villen für ihn und seine Tochter wird aber nichts, weil die US-amerikanischen Mafiosi andere (mexikanische) Waschanlagen für ihr Schwarzgeld vorziehen. Einziger echter Fan der Flores-Familie ist der Nachbarsjunge Aurelio, dessen Bewunderung weidlich ausgenutzt wird. Die Nachbarstochter, die ihn „Hund“ nennt, nutzt ihn erst als Beschäler, um sexuelle Frustrationen zu überwinden, dann wird er als Vater für deren aus einer Vergewaltigung entstandenen Tochter eingeheiratet, um letztlich für die Familie, die ihn als Domestiken behandelt, fünfzehn Jahre Knast zu schieben.

Die Handlung setzt nach dem Knastaufenthalt ein, und Aurelio spielt wieder den Hund. Anstatt sich von den Flores abzusetzen, übernimmt er demütig weitere Handlanger- und Vertuscherdienste. Und darf schließlich das Kommando über die Luxus-Ruinen übernehmen. Bissiger wurde eine ganze Gesellschaftsschicht lange nicht verhöhnt. Armes Mexiko, großer Ortuño.

Antonio Ortuño ist gegenwärtig Stipendiat des DAAD, Die Verschwundenen steht auf Platz 4 der SWR-Bestenliste April.

Unsere Dauerchampions: Zum dritten Mal steht Attica Locke mit Bluebird, Bluebird auf der Krimibestenliste.

Die Krimibestenliste April wurde am Sonntag, den 7.4.2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt veröffentlicht, und ist online wiederzufinden unter www.faz.net/krimibestenliste
und www.deutschlandfunkkultur.de/krimibestenliste (ab Montag).
Unter diesen Webadressen finden Sie immer die aktuelle Krimibestenliste.

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert