Nachgefragt bei Daniel Kampa Braucht der Buchhandel wirklich einen 76. Fall von Maigret?

Fast 90 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erscheint bei Kampa am 11. April ein neuer Maigret-Roman erstmals auf Deutsch. Wir haben Daniel Kampa gefragt: Braucht der Buchhandel wirklich einen 76. Fall? Und wie kam es zu der Verspätung von fast einem Jahrhundert?

Daniel Kampa: „Gerade war ein Fernsehteam vom ORF hier im Verlag, um mit mir und John Simenon, der das Erbe seines Vaters verwaltet, über diesen neuen Roman zu sprechen. Auch mit 90 Jahren Verspätung sorgt Maigret für Schlagzeilen“

Daniel Kampa: Simenon hat, was die Entstehung von Maigret betrifft, eine Legende erschaffen, die nie wirklich angezweifelt wurde. Ihm sei die Figur des Pfeife rauchenden Kommissars im holländischen Städtchen Delfzijl eingefallen, als er dort festsaß, weil sein Boot abgedichtet werden musste. Er habe innerhalb von fünf Tagen den ersten Fall Maigret und Pietr der Lette geschrieben, der Beginn eines Welterfolgs. In Wahrheit ist die Sache aber deutlich komplizierter, denn Maigret entstand nicht aus dem Nichts, Simenon hat sich langsam an seinen legendären Kommissar herangetastet. Über ein Dutzend unterschiedlicher Kommissare hatte Simenon zuvor erdacht. Und auch Maigret trat schon vor seiner offiziellen Premiere in Erscheinung: Es gibt vier sogenannte »Proto-Maigrets«, frühe Romane. Im ersten ist Maigret noch ein Kommissar in Marseille; der vierte Proto-Maigret ist Maigret im Haus der Unruhe – sozusagen die Generalprobe für Maigret und Pietr der Lette.

Warum hat Simenon diese komplexe Entstehungsgeschichte verheimlicht?

Wenn er auf diese frühen Maigret-Romane angesprochen wurde, hat er ganz offen zugegeben, dass es die Figur früher gab, als die meisten denken. Ich glaube, er wurde so oft nach der Entstehung von Maigret gefragt, dass er sich einfach eine griffige Version zurechtgelegt hat. Journalisten (und auch Leser) wollen keine umständlichen Erklärungen, sondern eine einfache, aber spannende Geschichte. Und wenn sich jemand einfache, spannende Geschichten ausdenken konnte, dann wohl Simenon! In Italien gibt es den Spruch: »Se non è vero, è ben trovato.« – Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden.

Ist dieser neue Maigret wirklich gut? Kann Maigret im Haus der Unruhe mit dem ersten »offiziellen« Maigret mithalten?

Absolut! Pierre Assouline, der Simenon-Biograph, sagt über Maigret im Haus der Unruhe, er sei »der vollkommenste der frühen Maigret-Versuche. Mit diesem Roman sitzt die Figur des Kommissar Maigret. Simenon hat seinen Helden endlich im Griff.« Die Requisiten (Quai des Orfèvres, der Kanonenofen, die Pfeife …), die Atmosphäre, Maigrets Methode, seine Nachsicht mit den Schwächen der Menschen – alles ist bereits da. Vielleicht ist der Ton noch ein wenig rauer, der Stil weniger geschliffen, aber dieser Protoroman ist eindeutig die Blaupause für alle späteren Maigrets.

Simenon hat 75 Maigret-Romane geschrieben, braucht der Buchhandel wirklich einen 76. Fall?

Durch Klick auf Cover zur Kampa-Vorschau

Für die Fans ist dieser neue Maigret wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen, ein unglaubliches Geschenk. Aber auch alle anderen Krimi-Leser dürfen sich freuen: Maigret im Haus der Unruhe ist ein spannender, wunderbar atmosphärischer Roman – und mit seinen fast hundert Jahren auf dem Buckel besser als viele Krimis von heute. Maigret ist einfach unschlagbar, oder – um Jean-Luc Bannalec zu zitieren –Maigret ist »der Kommissar der Kommissare«.

Wie bewerben Sie das Buch?

Es gibt ein Plakat für den Buchhandel und einen Prospekt, in dem alle bisherigen Simenon-Neuerscheinungen, auch jene, die bei Hoffmann und Campe erscheinen, präsentiert werden. Für Simenon-Partnerbuchhandlungen gibt es einen zwei Meter hohen Aufsteller mit dem Covermotiv. Wir haben zudem ein großes Kontingent an Leseexemplaren für Buchhändlerinnen und Buchhändler, die sich selbst von der Qualität überzeugen wollen. Die Presse beißt jedenfalls an: Gerade war ein Fernsehteam vom ORF hier im Verlag, um mit mir und John Simenon, der das Erbe seines Vaters verwaltet, über diesen neuen Roman zu sprechen. Auch mit 90 Jahren Verspätung sorgt Maigret für Schlagzeilen.

Kann es nach dieser Überraschung noch andere spannende Simenon-Entdeckungen geben, die Sie ja angekündigt haben?

Und wie! Für den Herbst planen wir Essays von Simenon über Maigret, die zum Teil noch nie auf Deutsch erschienen sind. Besonders stolz bin ich auf einen Bildband, der Simenon als Fotografen präsentiert – mit einem Vorwort von William Boyd, der nicht nur großer Simenon-Fan ist, sondern sich auch, wie seine Leser spätestens seit seinem Roman Die Fotografin wissen, sehr für Fotografie interessiert. Und im Sommer lanciert der Hoffmann und Campe Verlag, mit dem wir die Neuedition gemeinsam stemmen, im Atlantik-Imprint die ersten Simenon-Taschenbücher in einer wunderbaren Ausstattung und mit großem Marketingaufwand.

Wir können Simenon in diesem Jahr also nicht entgehen?

Nicht nur in diesem Jahr. Am 4. September folgt der 30. Todestag von Simenon, Anlass für viele Neuausgaben seiner Bücher. Claude Chabrol hat einmal gesagt: »Was ich lese? Den ganzen Simenon. Und wenn ich damit fertig bin, fange ich wieder von vorne an.« Mit dem Simenon-Verlegen hört es auch nie auf: Es gibt immer etwas Neues oder einen Anlass.

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