Jeden Werktag hier die Plattform für "Bücher, die Buchhändler und Leser bereichern" Dacia Maraini „Drei Frauen“ ist ein kostbares Juwel literarischen Erzählens von und über Frauen heute

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Die 81jährige italienische Autorin Dacia Maraini hat einen hochmodernen Roman über die Notsituation von Frauen in einer Zeit gesellschaftlicher Verarmung und Vereinsamung geschrieben – ganz auf der Höhe ihrer künstlerischen Glanzleistungen aus jüngeren Jahren. Der Roman stellt ein Wunderwerk gesellschaftlich relevanten literarischen Erzählens dar, das viele LeserInnen begeistern könnte.

Drei Generationen unter einem Dach – das klingt ganz nach dem klassischen Rezept für einen Breitwand-Familienroman, schon gar aus Italien, wo „die Familie“, jedenfalls mehr als bei uns jedenfalls, noch immer eine feste traditionelle Größe ist.

Und doch befinden sich die familiären Verhältnisse gerade in Italien in einem Alarmzustand.  Der Druck, dem immer mehr Menschen aus Familien des Bürgertums und der Bildungsschichten dort ausgesetzt sind, ist für Deutsche –  mit der niedrigen Arbeitslosenquote und dem hohen Niveau an sozialen Absicherungen in der Bundesrepublik  – schier unvorstellbar. Am härtesten trifft es, wie immer, die Frauen – so wie es in diesem Roman sichtbar wird.

Die Wohnung, in der die drei Frauen dieses Romans unter einem Dach leben, hat nur drei kleine Zimmer. Auf notvoll gedrängtem Raume wohnen Großmutter – Gesuina -, Mutter – Maria – und Kind – Lori. Das Trio lebt unter eben den Bedingungen, die ein zentrales Generationenproblem der Gegenwart darstellen. Die Existenz der Alten und der Jungen hängt an einem seidenen Faden – sie sind total von der Erwerbsfähigkeit der mittleren Generation abhängig. Maria ist die einzige, die regulär Arbeit und feste Einkünfte hat.

Es ist ein Glücksfall, aber kein Wunder, dass  Dacia Maraini nun diese kritische Situation aufgegriffen hat  Es gibt dem Roman eine besondere Autorität. Denn Dacia Maraini ist seit Jahrzehnten, dank herausragender erzählerischer, thematisch einschlägiger  Werke, die führende Vertreterin, die glaubwürdige Sprecherin, „die Stimme“ der Frauen in Italien.

Ein hochaktueller, hochmoderner Roman  – von einer 81jährigen Autorin

Sie hat hier keinen konventionellen dickleibigen Roman vorgelegt, der sich über Generationen hinzieht. Sie erzählt die Geschichte eines einzigen Jahres, in dem die Situation sich schließlich  dramatisch zuspitzt und das labile Gleichgewicht der drei Frauen unter dem einen Dach erschüttert. Maria, die tragende Säule der Gruppe, bricht unter der Last einer neuerlichen Zumutung zusammen. Sie liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma. Die Großmutter und die Tochter drehen fast durch: Was wird, wenn Maria ganz ausfiele?

Die Struktur des Romans beruht auf der Konstellation einer sehr einfachen Handlung. Der Sog, in dem er den Leser mitreißt, seine erzählerische Kraft erklärt sich aus einer weiteren Qualität Dacia Marainis. Sie ist künstlerisch überzeugend. Sie ist die größte lebende Autorin der italienischen Literatur.

So erzählt sie den Roman aus den Perspektiven der drei weiblichen Charaktere. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: die 60jährige Gesuina, eine ehemalige Schauspielerin, mit ihrem burschikos-deftigen Wortwitz; die 40jährige Übersetzerin Maria, die sich unter ihrer täglichen Bürde in das abgehoben schöne Reich literarischer Traumidyllen flüchtet; der 17jährige Teenager Lori, der sich zynisch rebellisch gegen Mutter und Großmutter zur Wehr setzt. Lebenslustig, erotisch wagemutig, aufgeklärt die Großmutter, die ihre Beobachtungen und Reflexionen auf Band spricht. Idealistisch verklemmt die Mutter, die sich in Briefen an ihren abwesenden französischen Geliebten Francois auslebt. Trotzig rotzig das Teenager-Girl, das sich und ihre Geheimnisse einem Tagebuch anvertraut. Es ist einfach wunderbar, wie Dacia Maraini ihre Geschichte vollkommen aus diesen drei Stimm- und Tonlagen heraus zu erzählen versteht.

Hochmodern ist auch das Explosionsmoment der Geschichte: Es ist ausgerechnet Lori, die im krassen Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht an die Liebe „und diesen ganzen alten Kram“ glaubt, hat eine Affäre, wie es ihrer lockeren Lebenseinstellung entspricht. Aber der Mann, der sie schwängert, ist – während  eines kurzen Besuchs – ausgerechnet der quasi platonisch ersehnte Geliebte ihrer Mutter. Und ausgerechnet die Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe der Großmutter, die ihre Enkelin am Ende dazu drängt, das Geheimnis ihrer Schwangerschaft  nicht länger vor ihrer Mutter zu verbergen, löst den Suizidversuch aus, der mit dem (vorläufigen) Koma von Maria schließt. Und ausgerechnet Lori schwört darauf, dass ihre Mutter unbedingt am Leben bleiben muss, weil sie keine Berufschancen sieht.

Das Wunder Dacia Maraini

Von zwei anderen Wundern ist abschließend noch zu berichten. Dass Dacia Maraini den Roman im Alter von über achtzig Jahren geschrieben hat – und es ist eine absolute Seltenheit, dass eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller noch ganz auf der Höhe seiner künstlerischen Fähigkeiten schreibt. Und, zweitens, in ihrer langen Schaffenszeit ist nicht ein einziges ihrer Werke „unter Niveau“ ausgefallen.  Was mich zu der Frage an unsere  BuchhändlerInnen verleitet – könnte diese – außergewöhnliche – künstlerische Zuverlässigkeit nicht ein Anlass sein, den Versuch zu unternehmen, mit  weiteren Roman Dacia Marainis festen Kundenkreis zufriedenen LeserInnen aufzubauen? Die Übersetzungen aus dem Folio Verlag böten dazu Gelegenheit.

Gerhard Beckmann

Werktäglich schreibt hier Gerhard Beckmann über „große Bücher“,  für Ihre Gespräche mit Kunden, die auf der Suche sind nach besonderem und relevantem Lesestoff.  An jedem Werktag (also montags bis Freitags) soll ein neuer Beitrag erscheinen, dazu auch immer mal ein zusätzliches  „Buch zum Sonntag“. 

Die Idee dahinter haben wir beim Start der Serie erläutert: Im BuchMarkt und auf buchmarkt.de wollen wir „große Bücher“ klar und deutlich profilieren. Und damit auch die deutschsprachigen Verlage darauf hinweisen, dass Bücher in erster Linie ein durch nichts anderes zu ersetzendes Medium zur Kommunikation mit und unter Menschen und Lesern ist, mit denen unsere Verlage  darum auch wieder so zu kommunizieren lernen müssen, dass diese Bücher von den Menschen und interessierten Lesern überhaupt gefunden werden können, als Orientierungshilfen für Buchhändlerinnen und Buchhändler, insbesondere denen, die im Ladengeschäft „an der Front“ stehen. 

Gestern schrieb Gerhard Beckmann über  Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? von Jürgen Kaube

 

 

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