Verlage werden nicht umhin können, sich als IT-Unternehmen aufzustellen

Der 12-jährige Jack Andraka wusste nicht, was ein Pankreas ist. Bis sein Lieblingsonkel an Pankreaskrebs starb und Jack es sich in den Kopf setzte, eine bessere Methode zur Früherkennung zu finden. – Er fand. Und wurde mit dem TED Innovationspreis ausgezeichnet. Heute, mit 16, engagiert er sich für den freien Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln im Netz. „Stellen Sie sich vor, alle Menschen hätten Zugriff auf das gesammelte Wissen der Welt“, sagte er einmal. „Dann hätten alle die Chance, eine Entdeckung zu machen, Krebs zu heilen.“

Die Forderung, dass staatlich finanzierte Forschungsergebnisse frei in- und außerhalb der Scientific Community zirkulieren sollen, gibt es in Deutschland seit zehn Jahren. Sie war bereits primärer Diskussionsstoff der APE 2013, die Arnoud de Kemp in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zusammenrief. Im Jahr 2014 ging es nun nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie des Zugangs und um die Frage, welchen Platz Verlage bei Open Access beanspruchen und wie sie als Wirtschaftsunternehmen an Open Access mitverdienen können. Sollen sie die Publikationen der Ergebnisse eine Zeitlang unter Verschluss halten dürfen, bevor sie sie freigeben (Green Open Access), oder sollen die Artikel sofort gratis zugänglich sein (Gold Open Access)?

In Deutschland sind die Positionen nicht so radikal wie in den Niederlanden, wie sich bereits in der Rede des niederländischen Bildungs- und Wissenschaftsministers Sander Dekker herausstellte. Ohne Umschweife fordert Dekker den Gold Open Access als moralisches Recht der Gesellschaft ein, damit die Jack Andrakas dieser Welt mehr Chancen haben. Wie diese Freiheit finanziert und organisiert werden soll, dazu äußerte er nicht viele konkrete Vorstellungen.

Wenn also Open Access gesetzt ist, stellt das die Regeln des wissenschaftlichen Publizierens auf den Kopf. Damit stellt sich die Frage, wer eigentlich für die Organisation von Ablage und Zugang – also für die „Findability“, die Auffindbarkeit – des gesammelten Wissens und seine nachhaltige Bewahrung sorgen muss. Die Forschung kann man als eine Industrie ansehen, deren Output in der Produktion von von Ergebnissen und deren Kommunikation besteht. Daher ist die Frage nach der Herrschaft über die Organisation des wissenschaftlichen Weltwissens auch eine Frage nach der Herrschaft über die Forschung selbst. Der Forschungsindustrie korrespondiert eine sich parallel entwickelnde Informations-Industrie, die den Wissenschaftlern, Verlagen, Bibliotheken und nicht zuletzt den öffentlichen oder privaten Finanzierern die exponentiell wachsende Anzahl der Publikationen organisieren und bewältigen hilft. Immer mächtigere IT-Systeme verlagern die Kontrolle über die Nutzungsregeln auf die Systembetreiber. Unternehmen wie Google und Facebook sind wohl nicht nur technologisch große Inspiratoren. Wenn also IT-Firmen Kontrolle über die Ergebnisse der Forschung übernehmen, stellt sich die Frage nach der Kontrolle über die Forschung als solche mit hoher gesellschaftlicher Priorität.

Es ist die besondere Stärke des Veranstalters Arnoud de Kemp, Menschen zusammenzubringen, die in diesen Fragen und allgemein in der Welt der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Publizierens eine wichtige Stimme haben. Kapazitäten wie Elisabeth Niggemann, Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek, sind auf Verlagskongressen nicht eben häufig zu finden. Die Teilnehmer honorierten es mit Beifall, mit angeregten Diskussionen in den Kaffeepausen und im ausgebuchten Konferenzsaal, der mit seinen sichtbaren Narben von den Straßenkämpfen 1945 ein sehenswerter Geschichtsort ist. Mit 250 wuchs die Zahl der Interessenten gegenüber 2013 nochmals um 10 Prozent – eine Konferenz mit Warteliste. Neben Bibliothekaren und anderen Dienstleistern waren die großen STM-Verlage – stark niederländisch dominiert – gut vertreten, die geisteswissenschaftlichen folgten zögernd. Der Handel fehlte mit wenigen Ausnahmen, als wollte er sich aus dieser Welt verabschieden. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen wissenschaftlichen Autoren, Verlagen und Handel ist genauso im Umbruch wie die zwischen Verlagen und Bibliotheken. Dass die Bibliothekare de Kemps Einladung in größerer Zahl Folge leisteten, mag auch daran liegen, dass sie – anders als Buchhändler – nicht unter dem Druck stehen, Monat für Monat Umsatz einzuholen, und dadurch weniger dem Zwang unterliegen, sich mit ihren Kunden statt mit ihren Lieferanten zu befassen.

Also machten sich auch ohne den Buchhandel 250 Wissensarbeiter auf die Suche nach der besten Organisation der Wissenschaft im Zeitalter weltumspannender Finde-Maschinen. Das Thema Big Data hatte natürlich seinen Auftritt – in der naturwissenschaftlichen Forschung absolut kein neuer Gast. Aber heute ist ein neuer Typus von Akteuren mit am Start: nicht Lehrstuhlinhaber, Institutsdirektoren oder sonstige akademische Granden mit Zugang zu Millionen Fördermitteln, sondern Start-ups – etwa Studierende, die den Wunsch spüren, ihre Arbeit zu reorganisieren, und gleichzeitig wissen, wie Social Networks, Google Docs und last.fm funktionieren. So war es 2008 im Fall der wissenschaftlichen Literaturverwaltungs- und Social Authoring-Plattform Mendeley. 2011 hatte sie mit dem Mitgründer Victor Henning ihren ersten APE-Auftritt. 2014 hat sie 2,5 Mio. registrierte wissenschaftliche Anwender und bietet neben der kostenlosen Studentenversion eine Premiumversion und eine Institutional Version an, die Swets weltweit vertreibt. Mendeley ist aber weit mehr als eine Kollaborations- und Publikationsplattform: sie erlaubt Verknüpfungen von vielerlei Art, zum Beispiel die Bildung von Forschergruppen oder die Ansprache von Wissenschaftlern, die gerade an Aufsätzen zu ähnlichen Themen arbeiten. Von vielen dieser Verknüpfungen werden die Anwender vermutlich niemals etwas erahnen, geschweige denn sie kontrollieren können. Zum Content tritt der Kontext als genau so wirkmächtiges Merkmal. Das ist gelernt – von Facebook, Google und Amazon.

So wie Amazon sich selbst nicht als Händler definiert, sondern als IT-Unternehmen, dessen Gegenstand die Vermittlung von Transaktionen mit Waren ist, so werden Verlage nicht umhin können, sich als IT-Unternehmen aufzustellen, deren Daseinszweck der Dialog zwischen Autoren und Lesern ist. Konsequenterweise hat Elsevier Mendeley im April 2013 gekauft. Wettbewerber Thomson Reuter hatte sich zuvor bereits mit Endnote in dieselbe Richtung verstärkt. Es bleibt abzuwarten, wie beide Plattformen sich profilieren, denn anders als in der Old Economy gibt es in der Webwelt meist nur einen Sieger.

Auch das ist ein Aspekt der digitalen Revolution: so wie mit der Gutenberg-Revolution der Verleger sich als ganz neuer Typus Mittelsmann zwischen den Autor und seine Leser schob, so schieben sich heute IT-Dienstleister zwischen Autor und Verlag und zwischen Verlag und Leser. Auf der APE 2014 waren sie reichlich vertreten und gaben faszinierende und teilweise unheimliche Einblicke in die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, die immer unübersichtlichere Scientific Community zu organisieren und davon zu profitieren. Edanz etwa, die Autoren bei Strukturierung und Auszeichnung ihrer Texte unterstützt – ein leidiges Problem aller Fachverlage, die sich für die geleistete Vorarbeit durch Konditionsverbesserungen erkenntlich zeigen. Oder das Start-up überResearch, das Förderer wissenschaftlicher Publikationen dabei unterstützt, ihr Portfolio zu optimieren. Bei Scrazzl können Biowissenschaftler nicht nur Chemikalien kaufen, sondern auch Informationen darüber bekommen, in welchen Aufsätzen diese vorkommen. ScienceOpen baut den erfolgreichen Social Publishing-Ansatz weiter aus.

Faszinierend auch die immer neuen Veranstaltungsformate, die Arnoud de Kemp und sein Team einführen. Diesmal lud getreu dem Motto „der frühe Vogel fängt den Wurm“ am Morgen der „Pre-Conference“ der Personal-Consultant Mark Carden zum „Breakfast Workshop“ über Karriere-Strategie. Die meisten Gäste der APE 2014 wünschen sich sicherlich, dass Arnoud de Kemp es nicht bei seiner Neunten bewenden lässt, sondern es Mozart gleichzutun sucht – der schrieb 41 Symphonien.

Michael Lemster

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