Jost Nolte mit „Offenem Brief“ an Günter Grass: „Ich kenne die Mär. Ich habe sie auch erzählt“

Der Publizist Jost Nolte hat sich heute mit diesem „Offenen Brief an Günter Grass in die Diskussion [mehr…]eingeschaltet.

Bisherige Veröffentlichungen des in Hamburg lebenden freien Autors sind u.a.: „Eva Krohn oder Erkundigungen nach einem Modell“, „Schädliche Neigungen“, „Es ist Dein Leben, Anna – Ein Vater schreibt seiner Tochter“.Sein Roman „Der Feigling“ erschien 2003 bei Scherz und ist als Fischer-Tasschenbuch (2005 ) noch lieferbar – die Geschichte handelt von jemandem, der seine Vergangenheit vergessen hat…

Lieber Günter Grass,

erinnern Sie sich an Ihr Lehrgedicht Ausgefragt aus den sechziger Jahren? In sechs von 30 Zeilen sprachen Sie darin von großem und von kleingemünztem Zorn, von „soviel Damals“ und vom Drahtseilturnen ohne Netz. Dann entspann sich ein Dialog, aus dem Dialog wurde ein Verhör, und einer – wer auch immer – fragte einen anderen – wen auch immer – hartnäckig aus: „Und wurdest schuldig? – Nein. Ich tat ja nichts. / Und hast erkannt, was sich erkennen ließ? / Ja, ich erkannte Gummi mit der Faust.“ Sie ließen Frage und Antwort im gleichen Ton weiterlaufen, bis eins der beiden Ichs etwas unvermittelt verlangte, jemand solle ihm den Rücken einseifen, und erklärte, dass es genug habe vom Vergleichen, Widerkäuen und Silbenstechen.

Nein, ich tat ja nichts. – Ich bitte um Pardon, aber mich plagen neuerdings Zweifel, wer im Gedicht der mit dem Rücken und wer der andere ist. Hinter einem von ihnen vermute ich den Autor, und ich wüsste gern, mit welchem er sich identifiziert. Also: Wessen Faust wird da tätig und wessen Körperteil aus Gummi – um einen solchen handelt es sich doch wohl – trifft sie?

Den Grund der zornigen Nachfrage kennen Sie: Der siebzehnjährige Günter Grass hat sich 1944 von der SS einfangen lassen. Gut sechs Jahrzehnte später gesteht er es, fügt hinzu, er habe nicht gewusst, was er tat, und ich soll es ihm aufs Wort glauben.

Lieber Günter Grass, von Jahrgangsgenosse zu Jahrgangsgenosse und von Ostseeanrainer (Kieler Bucht) zu Ostseeanrainer (Danziger Bucht): Dahinten bei Ihnen in Westpreußen müssen die Leute seinerzeit mit unsäglicher Ahnungslosigkeit geschlagen gewesen sein. Vor Ihrer Tür, in Polen, haben Himmler, Heydrich und ihre SS – nicht nur sie, aber sie zuerst und hauptsächlich – 1939 losgelegt mit dem Völkermord, und ein aufgeweckter Junge wie Sie will davon nichts mitbekommen haben? Bei uns kannte auch keiner die Details, aber jeder, der zur SS ging, wusste, was er tat, und wer nicht zur SS wollte, hat alles getan, um von ihr verschont zu bleiben. Man hatte genug gehört und gesehen.

Wie aufgeweckt Sie waren, haben Sie später bewiesen. Sie hätten Blechtrommel, Katz und Maus und Hundejahre nicht schreiben können, ohne auf dem Posten gewesen zu sein – Romane, die für die ich Sie bewundert und um die ich Sie beneidet habe. Umso kläglicher klingt jetzt Ihre Beichte, und Kempowskis „Ein bisschen spät sagt er es ja“ und Karaseks „Schließlich war ich auch auf der Napola“ sind allzu dürftige Kommentare aus dem Stegreif.

Aus Erfahrung weiß ich, wie schwer es fällt, Fehltritte in jenen Tagen einzugestehen, und am Erfolg von Geständnissen lässt sich zweifeln. Was wir damals gedacht oder nicht gedacht, was wir getan oder nicht getan haben, klebt an uns bis ans Ende unserer Tage, ob wir uns herauszureden versuchen oder nicht. Als sich anno 2003 Walter Jens und Peter Wapnewski partout nicht an ihre NSDAP-Mitgliedschaft erinnern konnten, habe ich für späte Ehrlichkeit plädiert, und anders als die nach wie vor geschätzten Gelehrten habe ich mich zum Eingeständnis durchgerungen, dass ich meinerseits noch 1944 den Antrag zur Aufnahme in die Partei unterschrieben hatte. Jens hat dann bekanntlich von „Zwangsmitgliedschaft“ gesprochen, Wapnewski hat die Kurve eleganter gekriegt – mir fällt der Gedanke an den Augenblick der Feigheit nicht leichter, seit ich ihn publik gemacht habe.

Es musste raus, sagen Sie. Nach mehr als sechzig Jahren. Sie schälen eine Zwiebel und wärmen die alte Geschichte vom Soldaten auf, der nicht geschossen hat. Ich kenne die Mär. Ich habe sie auch erzählt, und falsch war und ist sie nicht. Es gab so etwas bei Kriegsende. Aber es ist, wie Sie sagen: Wir gehen bei Grimmelshausen und Remarque in die Schule, weil wir übers Landserheft hinausfinden wollen, und die Sprache läuft und läuft. Am Ende aber steht etwas auf dem Papier, wovon nicht einmal der Autor weiß, ob es stimmt oder nicht. Ich meine, gegen die Selbstverführung mittels Sprache hilft nur Reduktion, verbunden mit dem Entschluss, den Rest dem Leser zu überlassen. Der muss dann allerdings mitspielen, oder das Buch bleibt liegen und es gibt keinen Nobelpreis.

Lieber Günter Grass, jetzt kommt es für Sie knüppeldick – es kommt schmerzlicher, vermute ich, als Sie es erwartet haben. Das meiste ist der bekannte bedingte Reflex des Literaturbetriebs, aber dabei bleibt es nicht. Nicht nur Lech Walesas Ansinnen, den Ehrenbürgerbrief von Danzig zurückzugeben, muss Sie hart treffen. Stimmt also, was Ihnen Ihr Biograph Michael Jürgs unter bitteren Tränen beklagt hat? Hat sich die moralische Instanz Grass selber entmachtet?

Wir kennen uns, seit im Herbst 1959 die Blechtrommel erschien und ich einer der ersten war, die über Ihren Geniestreich jubelten. Andere waren anderer Meinung; ich bin bis heute überzeugt, dass jene Kritiker recht hatten, die Sie lobten, und nicht die anderen. (Dass Marcel Reich-Ranicki später seine Beschwerde gegen den „außergewöhnlich lauten und in die Länge gezogenen Trommelwirbel“ zurückgezogen hat, steht auch auf Ihrem Erfolgskonto.) Ihre Gewissenspredigten sind mir dagegen mehr und mehr auf die Nerven gegangen, und zuletzt habe ich weggehört, um mich nicht mehr ärgern zu müssen. Das Strafgericht, das jetzt über Sie hereinbricht, haben Sie sich in erster Linie in Ihrer Eigenschaft als Instanz zuzuschreiben, und wie die Dinge liegen, verfolge ich es mit gemischten Gefühlen. Eins aber stimmt auf jeden Fall: Literaten sind von Natur aus besonders anfällig für die Sucht, recht zu behalten. Darum ist ihnen nichts dringender zu empfehlen als unermüdliche Selbstüberprüfung.

Studieren Sie, so mein spezieller Rat, das Standardwerk Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Darin finden Sie verlässliche Auskunft darüber, was ein Junker der SS-Division Frundsberg 1944/45 wissen konnte, wenn er es denn wissen wollte.

Mit den besten Grüßen
Ihr Jost Nolte
JOSTNOLTE@aol.com

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