Gerhard Beckmanns Meinung: Über die zwölf britischen Städte, die Kulturhauptstadt Europas 2008 werden wollten. Und was dabei schließlich für die zeitgenössische Literatur herauskam

Wir gratulieren unserem großartigen Kollegen und Mitstreiter zum 65. Geburstag am 30.11. 2003!: Lieber Gerhard, alles Gute, und mach bloß weiter so!!!
Conne Camen, Nicole Lindgens, Barbara Meixner, Lore Schon, Kirsten Peters, Michaela Strater, Susanna Wengeler, Ulrich Faure, Carsten Tergast, Jo Volks und Christian und Axel v. Zittwitz

Zwölf Jahre ist’s her, dass die EU entschied, die Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2008 solle auf britischem Boden liegen. Da begann dort zwischen einem Dutzend Städte sofort ein wahres Wettrennen um diese heiß begehrte Trophäe – mit Ansprüchen und Konzepten, wie sie verschiedener gar nicht hätten sein können.

Gestatten Sie eine für Buchhändler und Verlagsleute zunächst vielleicht befremdliche Übersicht mit einem unerwarteten, überraschende Ende von literarischer Bedeutung.

Belfast – in Nordirland – berief sich auf seine historische kulturelle Vielfalt, die (mit all ihren Konflikten) in der Vision einer alles verbindenden Zukunft dargestellt zu werden verdiene.

Die alte Industriemetropole Birmingham setzte auf ihre Modernität: auf die Realität des Lebens und wie die Menschen in ihren Mauern „von ihrer Umwelt, ihrer Arbeit und ihre Bildung geprägt sind – darin besteht ihre Kultur, und auf die wollen wir bauen“.

Bradford – ein altes Textilzentrum in Yorkshire mit einer ethnisch vielfältigen Bevölkerung ( vor allem asiatischer Herkunft) – wollte sich als Modell einer modernen kosmopolitischen Kultur präsentieren.

Brighton und Hove – Badeorte an der englischen Südküste – rühmten sich, nach Edinburgh das bedeutendste Kunstfestival Grossbritanniens zu veranstalten und ein idealer touristischer Standort für solches Event zu sein.

Bristol bewarb sich als Zentrum einer reichen urbanen Kultur, die es im Rahmen einer Kulturhauptstadt Europas zu voller Größe auszubauen gedachte.

Canterbury – sozusagen (sorry, my dears) das Rom der anglikanischen Kirche – machte enge kulturelle Verbindungen mit Kontinentaleuropa geltend, wie keine andere britische Stadt sie aufzuweisen vermöchte.

Cardiff sah sich wegen seiner zweisprachigen Bevölkerung (Englisch und Walisisch) als mit dem restlichen Europa besonders eng verwandt und hoffte, als jüngste europäische Hauptstadt (des neuerdings teil-autonomen Landes Wales) nun EU-weit Glorie zu gewinnen.

Inverness mitsamt dem schottischen Hochland plante, sich mit seiner einzigartigen Naturschönheit und Mischung aus auchthoton gaelischen, schottischen und Einwandererkulturen als das bisher kaum bekannte, heimliche Herz Schottlands darzustellen.

Newcastle und Gateshead – im hohen englischen Norden – verwiesen auf ihre singulären sportlichen Einrichtungen und Bürgerkultur-Events in Verbindung mit ihrer fantasiereichen Entwicklung von Hochtechnologien.

Oxford – nun, Oxford kennt jeder; dass diese altehrwürdige Universitätsstadt auf ihre zentrale Rolle als wegweisende Stätte moderner Naturwissenschaften in Grossbritannien pochte, muss allerdings jeden, der Cambridge und London (mit seinem Imperial College) kennt, doch ein wenig gewagt erscheinen.

Keine von ihnen hat das Rennen gemacht.

Gewonnen hat Liverpool, die Heimat der Beatles, die große alte Industrie-. Hafen- und Werftstadt, die Kultur schlichtweg zum Fundament ihrer Zukunft erklärte.

Die Krone freilich gebührt einem der Verlierer.

Norwich.

Es ist eine der schönsten und best erhaltenen historischen Städte Englands. Mit einer nahezu 1200jährigen Geschichte und einem (noch immer) mittelalterlichen Straßenplan, einer fast einzigartigen Kathedrale, Burg und Marktanlage aus normannischen Zeiten. Mit 31 mittelalterlichen Kirchen – mehr als zumindest jede andere westeuropäische Stadt sie aufzuweisen vermag. Mit so vielen wunderbaren Pubs, dass man an jedem Tag des Jahres eine andere aufsuchen könnte.

Die Krone gebührt Norwich aber nicht deswegen, sondern dafür, was es nun nach seiner Niederlage im Wettbewerb der britischen Städte unternommen hat.

Zur dort ansässigen Universität von East Anglia gehört seit 1970 das renommierteste Institut für Creative Writing in ganz Europa, an dem u.a. Malcolm Bradbury, Angus Wilson, David Lodge und (unser?) W.G. Sebald unterrichtet haben. Aus ihm sind Autoren hervorgegangen wie Angela Carter und Kazuo Ishiguo. Der berühmteste von ihnen – er war auch der erste Student dort – heißt Ian McEwan. Er hat die Schirmherrschaft für ein neuartiges Projekt zur breiten Ausbildung, Förderung, Pflege und Promotion literarischer Talente übernommen, welche die Universität gemeinsam mit der Stadt und Region entwickelt hat – auch mit dem Ziel, die Bevölkerung vermehrt für neue zeitgenössische Literatur zu engagieren. Das Projekt soll allerdings weit über die Landesgrenzen hinaus wirken, es soll international ausstrahlen.

So wird das vielen kaum bekannte, 190 Kilometer nordöstlich von London (ab)gelegene, mittelgroße Norwich, wenn auch nicht dem Namen nach, zu einer wahren Kulturhauptstadt Europas – der einzigen übrigens, die im Zeichen zeitgenössischer Literatur steht.

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig {seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.}

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