Michael Naumann blickt zurück auf ein bewegtes Leben „Jeder Lebensabschnitt scheint in einem eigenen Waggon untergebracht zu sein“

Michael Naumann: „Glück gehabt. Ein Leben“ (HoCa)

Michael Naumann sei ein Wanderer zwischen den Welten, schrieb die Berliner taz einmal über ihn. Journalist, Verleger, Herausgeber, Wissenschaftler, Politiker, Buchautor – jetzt  ist seine Autobiographie „Glück gehabt. Ein Leben“ bei Hoffmann und Campe erschienen, in der sich siebzig Jahre deutsche Zeitgeschichte widerspiegeln und die ihn feststellen lässt:

„Ein zielstrebiges Leben habe ich nicht geführt – Ich habe Glück gehabt“

Dies war Anlass für uns, heute an Stelle des hier Freitags gewohnten Autorengespräches einen  Abschnitt aus seinem Buch und damit auch prägenden Teils seines Lebens vorzustellen – tauchen  wir heute ein in seine Zeit als Verleger von Rowohlt mit dem Kapitel: „Rowohlt – eine nüchterne Liebesgeschichte“:

 

Die Buchfabrik

Mein Vorgänger im Verlag, Matthias Wegner, hatte nicht nur eine kompetente Lektoratsmannschaft zusammengestellt, sondern auch einen Managementstil entwickelt, der sich bewährte. Jeder Lektor, so sagte er, sei ein »Kleinverleger« – sollte heißen, dass die Verantwortung für das Programm nicht auf seiner Schulter allein ruhte. Doch woran lag es, dass der jährliche Umsatz des Hauses bei sechzig Millionen Mark stagnierte? Lag es an der außerordentlichen Programmvielfalt des Taschenbuch-Verlags mit seinen zahlreichen Reihen? Gab es Fehler im Vertrieb? Die Taschenbuch-Konkurrenten Heyne, dtv, Fischer und Goldmann und andere florierten. Waren die Bücher zu teuer? Oder fehlten ganz einfach die Megabestseller, die seinerzeit noch Auflagen mit mehr als 100 000 verkauften Exemplaren benötigten, um an die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste zu rücken? Und lassen sich derlei Bestseller buchstäblich planen?
Im Jahr 1985 war ich der teuerste Lehrling des deutschen Verlagsbuchhandels geworden und hatte keine Ahnung. Nur eines fiel mir auf: Die Lektoren als »Kleinverleger« litten unter der schleichenden Auflagenkrise, und ein Team bildeten sie nicht – man hatte jahrelang zu dicht aufeinandergesessen, es gab gleichsam »genealogische« Geheimnisse zerbrochener Lieben und Freundschaften. Die Lektoratsfamilie mochte sich selbst nicht sonderlich. Das kannte ich aus dem Spiegel. Es existierte eine unterirdische Freundschafts- und Feindschaftshistorie von Zimmer zu Zimmer, und die musste ich kennenlernen – »ambulatorisches Management« war gefragt. So wanderte ich erst einmal durch die Büros und stellte Fragen, während mein kaufmännischer Kollege in der Geschäftsführung, Helmut Dähne, versuchte, die Zuständigkeit für die Presseabteilung und Umschlaggestaltung zu erobern. Der »Lehrling« konnte das gerade noch verhindern, und über die Jahre hinweg entwickelte sich ein gegenseitiger Respekt. Es wurde wieder gelacht. Mein Vorgänger hatte an seiner Bürotür einen Einlass-Summer installiert, meine Tür blieb offen.
Dass der Verlag mit einer Produktion von bis zu 500 Büchern im Jahr nichts mehr zu tun hatte mit der Manufaktur des alten Rowohlt Verlages der Vorkriegsjahre, war offenkundig. Die heroische Epoche der Wiederauferstehung nach 1945 lag hinter ihm, eine stattliche Liste von Nobelpreisträgern schmückte das Programm, doch die hochentwickelte westdeutsche Konsumgesellschaft verlangte nach Lebenshilfen im Alltag. Der Bildungshunger, den die Taschenbuchreihe »Rowohlts Deutsche Enzyklopädie« von 1955 an gestillt hatte, war bereits gesättigt, und als der Verlag 1957 Platons Gesamtwerk vorlegte, muss das dem Gründer des Hauses, der alles andere als ein Philosoph war, seltsam vorgekommen sein.
Die Innovationskraft des Lektorats schien nach meinem Antritt nicht zu erlahmen, eine neue Taschenbuchreihe folgte der anderen – und schließlich war Rowohlt plötzlich mit mehr als sechs Millionen verkauften »rororo Sport«-Bänden der größte Sportbuchverlag im Lande. »Rowohlts Monographien« hatten seit 1957 ungezählte Universitätsreferate bereichert, und die »rororo Thriller« fanden in 38 Jahren dreißig Millionen Käufer. Kein Wunder, dachte ich, dass der amerikanische Buchhandel seine Kriminalromane unter der Rubrik »Soziologie« in die Regale stellt – in Thrillern gönnt sich das bildungsnahe deutsche Publikum womöglich einen Blick in die eigenen Gewalt-Versagungen, die ein zivilisiertes Lesen und Leben literarisch kompensiert. Das offizielle Morden in Uniform war überwunden und in der Erinnerung an die Niederlage abgetaucht, aber die seltsame Sehnsucht nach dem Grauen konnte mit Thrillern massenhaft befriedigt werden. Und vor allem: Das Gute siegte auf der letzten Seite, anders als im wahren Leben.
Ein Blick in Rowohlts Verlagsgeschichte und die Programme der sechziger bis neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kann eine Zeitgeistanalyse nicht ersetzen, aber die Silhouette einer emanzipatorischen, antiautoritären und feministischen Phase der Bundesrepublik wird deutlich sichtbar. Hier produzierte eine junge Lektorengeneration Bücher, die ihrem eigenen Lebenszusammenhang entsprachen. In Taschenbuchreihen offenbarten sich ihre aufklärerischen Hoffnungen: »die neue frau«, »rororo Sexologie«, »rotfuchs«, »Das Rock-Lexikon«. Die erste Nachkriegsgeneration bekam Kinder und kaufte sich Wanderschuhe: »rororo Elternrat« und »rororo anders reisen« begleiteten die antiautoritäre Generation in neue, geistige Landschaften einer Gesellschaft, die sich mit Willy Brandt eine Lichtgestalt erwählt hatte – er besuchte den Rowohlt Verlag im Jahr 1971. Seitdem hat sich keiner seiner Nachfolger dort sehen lassen. Warum auch?
Die erste deutsche Taschenbuchreihe, die sich dem Siegeszug der Computer widmete, startete mit dem ominösen Titel ms dos. Der Vertrieb winkte ab. Hunderttausende Käufer waren dankbar.
Welche Rolle sollte und konnte ein Verleger in diesem Bücher- und Reihengewimmel eigentlich spielen? Es gab ja hervorragende Lektoren, an ihrer Spitze Hermann Gieselbusch, für das Sachbuch zuständig, und Georg Heepe, der auf verblüffende Weise das Klischee des kompetenten, stillen und loyalen Cheflektors im Buchverlag verkörperte. Er schien mit dem Verlag verlobt zu sein und heiratete dann kurz vor seinem allzu frühen Tod seine Lebensgefährtin und Sekretärin im Büro, um das Leben zwischen Manuskripten und Verträgen ostentativ abzurunden.
Sein Kollege Delf Schmidt, zweifellos der Chefironiker im Hause, hielt den Kontakt zu zeitgenössischen Schriftstellern in Deutschland und Frankreich. Die Betreuung der Gesamtausgaben von Kurt Tucholsky, Jean-Paul Sartre, Italo Svevo, Vladimir Nabokov oder Robert Musil lag in den Händen freier Herausgeber, die Telefonate mit dem stets nachdrängenden und nimmermüden Rolf Hochhuth nahm Georg Heepe auf sich. Ich schätzte den Mut und den historisch gebildeten Zorn des Stellvertreter-Autors, doch Hochhuths Anrufe bei der Druckerei, in denen er Korrekturen seiner Texte bei laufender Buchproduktion einklagte, schienen mir in jeder Hinsicht übertrieben zu sein. Warum, dachte ich, druckt er nicht selbst?
Hochhuth zu Naumann: »Von Lyrik verstehen Sie nichts.« Naumann zu Hochhuth: »Das sagen Sie einem Mann, der soeben freiwillig Ihre Gedichte verlegt hat.« Insofern hatte er recht.
Die Herausgeberin der aktuell-Reihe, Ingke Brodersen, repräsentierte das neue, ökologische Bewusstsein. Ihr Bestseller Öko-Knigge öffnete den programmatischen Verlagsweg zur Mülltrennungs-Gesellschaft und Anti-Atomkraft-Bewegung. Diese erstaunliche, ja großartige Frau, an der eine Umweltministerin verloren ging, erschien eines Tages nach einem mehrtägigen Urlaub mit zerkratzten Händen in meinem Büro. Sie hatte einen ersten Konflikt mit dem Verlagsleiter Naumann auf- bzw. abgearbeitet, indem sie bei einer Abrissfirma anheuerte, um einen halben Wohnblock zu zerlegen. Sie sollte 1991 die Leitung des Rowohlt Berlin Verlags übernehmen.
1985 galt es für den Neuling Naumann, eigene Impulse zu setzen. Kurz vor meinem Antritt in Reinbek machte ich mit meiner Familie noch einmal Urlaub in Kalifornien und deckte mich in einem Antiquariat in San Francisco mit einem Stapel Bücher ein – lauter Autoren, die ich nicht kannte. Nach dem Lektüre-Marathon blieben zwei Dichter übrig, die mich faszinierten: Robert Stone und Cormac McCarthy. Beide Autoren, so stellte sich heraus, waren Jahre zuvor vom Lektorat in Reinbek abgelehnt worden. McCarthys düstere Romane aus dem amerikanischen Südwesten galten in Reinbek als »Blut-und-Boden«-Literatur. Stones A Flag for Sunrise (Das Geschrei deiner Feinde) hätte zwar in das amerikakritische Rowohlt-Programm gepasst, aber irgendjemand in Reinbek hatte sich womöglich vor dem toten Teenager in der Tiefkühltruhe geekelt.
»Warum wollen Sie das alles eigentlich machen?«, fragte mich Hans Joachim Schädlich, dessen Buch Versuchte Nähe zu seiner Expatriierung aus der DDR geführt hatte. Die Stasiakten blieben da – später stellte sich heraus, dass ihn sein Bruder bespitzelt hatte. Schädlichs lakonische Frage entsprach seiner moralischen Haltung gegenüber allen Formen politischer oder gesellschaftlicher Machtgelüste. Aber meine Antwort schien ihm zu gefallen: »Weil ich mich darauf freue, mit Menschen wie Ihnen zusammenzuarbeiten.« Das meinte ich ernst. Seine Erfahrungen mit dem ostdeutschen Repressionsregime, die sich widerspiegeln in dem Roman Tallhover, wiesen ihn keineswegs als »typischen«, widerständigen DDR-Schriftsteller aus, sondern als empfindlichen Diagnostiker aller Staatswesen, die auf sogenannte »Verantwortungsethiker«, also staatstreue Diener angewiesen sind, die »im Auftrag« handeln, selbst wenn dieser Auftrag mörderische Konsequenzen hat. Dass sein ursprünglicher Förderer Günter Grass in literaturhistorisch einmaliger Weise die Figur des »Tallhover« als »Hoftaller« (»Wir können auch anders!«) in seinen Roman Ein weites Feldübernahm, führte zu einem unheilbaren Bruch zwischen beiden Autoren.
Schädlich ist – wie Herta Müller – ein moralischer Dichter, dessen luzide Sprache die Möglichkeiten unmoralischer Existenzweisen in Gesellschaften vorführt, die es sich gleichsam »eingerichtet« haben und dabei Schaden an der Seele in Kauf nehmen. Schädlich und Müller haben in ihren Romanen und Essays das angepasste Leben in den Nischen totalstaatlicher Systeme als das vorgeführt, was es auch ist – Feigheit im Reich des Unvermeidlichen.
Ich bemerkte bald, dass ich außergewöhnlichen Menschen wie Schädlich mit einer gewissen Scheu begegnete. Die Kumpanei, die unter Journalisten die Regel ist, war im Gespräch mit Dichtern unangebracht. Verleger, so verstand ich es, sind Postboten, die Bücher an die Welt verschicken; dass sie das Privileg teilen, die Botschaften vorher zu lesen, macht sie nicht zu Seelenverwandten, auch wenn sich einige, wie zum Beispiel Siegfried Unseld, danach sehnten, nur um bitter enttäuscht zu werden. Ledig gehörte nicht zu ihnen. Zu seiner Beerdigung in der Nähe von London kam kein einziger seiner Autoren. »Die meisten waren ja schon tot«, schrieb mir John Updike. Er selbst aber lebte, antwortete ich – und zwar nicht schlecht, unter anderem von den gewaltigen Vorschüssen, die der Verlag seit seinem ersten Rowohlt-Roman Paare überwies.
Die gleiche Scheu verband mich wohl gegenseitig mit Elfriede Jelinek, die ich kurz nach meinem »Dienstantritt« in Wien besuchte. Man kann es auch so ausdrücken: Zwischen ihr und mir existierte die schier undurchdringliche Wand meiner Bewunderung ihres Werks; für sie war ich der leitende Angestellte in Reinbek. Als ich eine berühmte Buchhandlung ihrer »Heimatstadt« (so würde sie Wien niemals beschreiben) besuchte, stellte ich fest, dass die Autorin Jelinek mit ihren Büchern im Sortiment fehlte. Ich war empört und wollte die Geschäftsführerin sprechen: »Warum führen Sie nicht Elfriede Jelinek?« – »Ach, wissen Sie, über uns wohnt ein Psychiater, und die Paula Wessely besucht ihn einmal in der Woche. Wenn sie bei uns die Jelinek sieht, fällt sie in Ohnmacht. Ein Skandal. Das können wir uns nicht leisten.«
Jelinek hatte in ihrem 1981 verfassten Schauspiel »Burgtheater« die angepasste Karriere der inzwischen kultisch verehrten Schauspielerin im Dritten Reich vorgeführt – zur Aufführung gelangte es freilich erst vier Jahre später, 1985, zu allem Überfluss auch noch bei den »Daitschen« in Bonn. Fortan galt sie in Österreich als »Nestbeschmutzerin« und »Hexe«. Ihr Roman Die Klavierspielerin hatte in halb Europa Furore gemacht, und Österreichs juste milieu sollte sie jahrein, jahraus mit dem Material versorgen, das sie mit dem unversöhnlichen Blick eines Karl Kraus in ihren Büchern und Theaterstücken ausstellte. Der Literaturnobelpreis im Jahr 2004 wird sie über die Pöbeleien ihrer heimischen Kritiker nicht hinweggetröstet haben; denn Trost brauchte sie nicht.

 

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