Das Autorengespräch zum Wochenende Benjamin Monferat: Terror am „Turm der Welt“?

Oktober 1889: Die Pariser Weltausstellung geht dem Ende zu. Millionen von Menschen strömen in die Lichterstadt, um Zeuge des Spektakels zu werden. Die brisante internationale Lage scheint für einen Augenblick vergessen. Und doch würde gerade hier, im bunten Gewimmel der Nationen und Interessen, ein Funke genügen, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Ausgerechnet da werden zwei Ermittler des französischen Geheimdienstes tot aufgefunden – sie waren einer Verschwörung auf der Spur.

Benjamin Monferat - © Gaby Gerster – feinkorn.de
Benjamin Monferat – © Gaby Gerster – feinkorn.de

Benjamin Monferat hat sich als Schriftsteller und Historiker ganz der Geschichte verschrieben. In seinem Roman Der Turm der Welt (Wunderlich) versammelt sich alles, was Rang und Namen hat, an der Spitze des Eiffelturms, um das Abschlussfeuerwerk zu bestaunen. Aber: Droht ein Anschlag? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: zu Lande, zu Wasser – und in der Luft …

Herr Monferat, in Ihrem neuen Roman Der Turm der Welt erzählen Sie eine Geschichte aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach Welt in Flammen wirkt das etwas eskapistisch.

turm-der-weltDas sehe ich nun überhaupt nicht so. Gerade weil wir hier in einem ungemein dekorativen Zeitalter unterwegs sind, in dem Menschen in enormem Pomp leben, während andere in der Gosse schlafen, erkenne ich einen besonderen Spiegel der Gegenwart. Auch 1889 war die Welt im Umbruch, die Menschen waren ebenso vergnügungssüchtig wie verunsichert. Es war eine Zeit der großen Ideen und Entwürfe, gewaltiger Egos und ungeheurer sozialer Verwerfungen.

In der Tat scheint es für Sie besonders wichtig zu sein, unterschiedliche Lebensentwürfe und Gesellschaftsschichten zu beschreiben. Kann man sagen, Sie versuchen sich am großen Gesellschaftsroman?

Nun, ich hoffe, ich versuche mich nicht nur daran. Aber ja, wenn ich ein Sittenbild einer bestimmten Zeit zeichne, dann darf ich dabei nicht nur die Schmuckauslagen bewundern, ich muss auch hinabsteigen in die Kohlenkeller. Das macht es aber auch so spannend, solche Bücher zu schreiben: sich ganz in diese Zeit, an diesen Ort zu begeben, um zu ergründen, wo diese Menschen uns ähnlich sind und wo sie sich von uns unterscheiden.

Der Ort, um den es hier geht, ist Paris. Der Turm der Welt, der Eiffelturm, war die große Sensation der Pariser Weltausstellung des Jahres 1889, vor deren Hintergrund Sie Ihren Roman ansiedeln. Was eigentlich macht gerade diesen Turm zu etwas so Besonderem?

Die Sichtbarkeit der Konstruktion, denke ich. Ein Turm, der aussieht wie ein Baugerüst, das hat noch heute etwas Radikales. Auf der Stelle erkennen wir, welche Bedeutung jedem einzelnen Bauteil zukommt. Nur dann, wenn alle Teile ihren Beitrag leisten, kann etwas so Großartiges Bestand haben. Für das Establishment des Jahres 1889, das den wahren Zusammenhang der Dinge noch allzu gern hinter Stuck und Putz versteckte, muss das eine ungeheure Provokation gewesen sein. Diesen Turm als schön zu empfinden, das haben wir allerdings erst über mehrere Generationen lernen müssen.

Wir sind also sehr weit entfernt von den Menschen jener Epoche?

Ganz im Gegenteil. Wenn die exposition universelle zum ersten Mal in der Geschichte den Versuch unternimmt, die Welt in einem globalen Dorf zusammenzurücken: Was ist das anderes als der Ehrgeiz des Internet? Zum ersten Mal wird es dem ganz gewöhnlichen Bürger möglich, Menschen aus anderen Kulturkreisen mitten in Europa leibhaftig zu begegnen. Wobei er seine aktuelle Art zu leben ganz selbstverständlich als Maß aller Dinge empfindet. Klingt das so weit entfernt? Wichtig ist, dass jene Generation eine ganz wichtige Erfahrung als allererste macht: die Erfahrung, dass die Welt sich schneller und schneller zu drehen scheint. Die Eisenbahn, die Fotografie, die Telegrafie, das ist alles noch ganz neu. Gottlieb Daimler ist mit seinem ersten Automobil auf der Weltausstellung vertreten – und in unserem Buch. Thomas Alpha Edison präsentiert seine ersten Geräte zur Tonwiedergabe, seine Laboratorien experimentieren währenddessen mit den ersten bewegten Bildern. Unendlich viel scheint mit einem Mal möglich.

Und das verunsichert die Menschen?

Warnende Stimmen sind durchaus zu hören, doch grundsätzlich ist die Stimmung von Optimismus geprägt, von einer Neugier auf die Zukunft, die uns heute naiv erscheinen mag. Dabei ist es unser heutiger Pessimismus, der eigentlich neu ist, während sich noch vor zwei Generationen radioaktive Zahncreme großer Beliebtheit erfreute – für ein strahlendes Lächeln. Die Chancen werden gesehen, die Gefahren werden ausgeblendet.

Dabei sind die Gefahren ganz real.

Sie sind sogar sehr real. Europa blickt auf bald zwei Jahrzehnte des Friedens zurück. Bismarcks Bündnissystem hat die Großmächte im Gleichgewicht gehalten. In eben diesen Monaten aber sind seine Widersacher im Begriff, ihn bei seinem neuen Kaiser auszuhebeln. Die „Schlafwandler“, die den Kontinent in die Katastrophe des Weltkriegs treiben werden, stehen schon bereit. Doch das wird ausgeblendet, als die Stadt für die Dauer der Ausstellung unversehens zur Hauptstadt der Welt wird.

Einige dieser großen Namen kommen in Ihrer Geschichte tatsächlich zusammen. Aber das ist nicht historisch?

Ein Roman hat nicht die Aufgabe, absolute historische Wahrheiten zu formulieren. Ihm stehen andere, faszinierende Möglichkeiten zu Gebote: Er kann Handlung verdichten, historische und gesellschaftliche Prozesse wie in einem Brennglas fokussieren. Das Paris der Weltausstellung ist ein solches Brennglas. Es ist die Stadt Baudelaires und Prousts voller Lichter und Schatten, wie die Welt sie niemals zuvor und seitdem niemals wieder gekannt hat. In meinen Augen sollte sich ein Roman über das Jahr 1889 auch ein bisschen anfühlen wie ein Roman aus dem Jahre 1889. Es ist die Stadt Gauguins, van Goghs und Toulouse-Lautrecs, der in unserer Geschichte eine kleine aber bedeutsame Rolle spielt. Es ist die Stadt Debussys, der sich auf der Ausstellung von den javanischen Gamelan-Spielerinnen intensiv hat anregen lassen. Und zweifellos auch von ihrer Musik.

Und dieses Paris mit seinen Millionen von Besuchern, die sich anlässlich der Abschlussfeierlichkeiten der Weltausstellung zu einem Fest des Friedens versammeln, gerät nun in Gefahr. Zwei Ermittler des Deuxième Bureau werden tot aufgefunden, gepfählt von den Zeigern einer gigantischen Uhr. Ein Anschlag droht, der die Stadt, den Kontinent, die ganze Welt ins Chaos stürzen könnte.

Es war ein ausgesucht ekelhaftes Gefühl, sich monatelang mit dem Szenario verheerender Anschläge auf die Lichterstadt zu beschäftigen, und dann, mittendrin, im November 2015, geschehen diese Anschläge in der Realität des Autors tatsächlich. So vieles, das für eine fiktive Handlung erdacht und formuliert wurde, ist live auf dem Fernsehschirm zu verfolgen, und mit einem Mal spielen die einhundertfünfundzwanzig Jahre zeitlicher Abstand keine Rolle mehr. Eines der Anschlagsziele, die Bar La belle Équipe, befindet sich einmal die Straße runter von unserem Quartier, wenn wir in der Stadt sind. Mein erster Gedanke war, dass ich das Buch unmöglich zu Ende schreiben könne, wenn es womöglich auf dem Rücken der Opfer besonders gute Verkäufe macht. Mein zweiter Gedanke war, dass ich mir ziemlich mickrig vorkommen sollte, wenn ich mir unter diesen Umständen überhaupt einen Kopf um mein Buch mache. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich es gerade jetzt zu Ende schreiben musste. Als Zeichen. Denn Terror will ja immer dasselbe: die Art, in der Menschen miteinander leben möchten, kaputtmachen. Und das darf nicht zugelassen werden. Wenn ein Roman da einen Beitrag leisten kann, ist das doch eine schöne Sache.

Benjamin Monferat, mit bürgerlichem Namen Stephan M. Rother, ist studierter Historiker und warb einst für sein Bühnenprogramm mit dem Slogan „Deutschlands erster, bester du einziger Stand-Up-Historian!“ Mit „Welt in Flammen“ feierte er seinen ersten internationalen Erfolg. Kürzlich ist bei Wunderlich von ihm der Roman „Der Turm der Welt“ erschienen.

In der vorigen Woche sprachen wir mit Burkhard Spinnen über seine Liebeserklärung an das Buch.

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