Der Messe-Mayer NACHKLAPP: Die Interviews

Liebe Freunde,

ich hatte auf der Messe so viele interessante Gespräche, dass ich vier davon erst heute nachreichen kann. Erst heute, weil ich Schlaf und Pflege nachzuholen hatte, und erst heute, weil aufgezeichnete Gespräche erst bearbeitet und niedergeschrieben werden müssen, und erst heute, weil VIER VERDAMMT!
Einer meiner Gesprächspartner war eine Autistin, der andere war Jörg Thadeusz, und Jörg Thadeusz war wirklich schwierig.
Denn er sprach noch schneller als die ADHS-Autistin. Mein drittes Gespräch war mit Maite Kelly in Zeitdruck, das toppte beides. Mit Peter Härtling konnte man sich ruhig unterhalten. Jedenfalls habe ich diese vier Juwelen nun nachlesebereit für Sie fertig. Und wie immer hatte ich bei all diesen Interviews große Freunde und innere Aufregung.

L E S E R F O T O S

Auch bat ich um nachgereichte Fotos, die diesen Nachklapp noch komplettieren mögen. Zum Beispiel sandte mir Oberbayern-Korrespondent Nicola Bardola diesen Hinweis auf einen Sci-Fi-Virtual-World-Thriller bei Coppenrath.

Teri Terry soll sich erst mal ein neues Pseudonym suchen.

Ganz klar, dass das erstens einen bekennenden John-Lennon-Fan stört, weil der den Titel eher sang als Coppenrath.

Und auch Robert Mastersons schamanisches Stadtneurotikerbuch gleichen Titels war viel früher.

Aber andererseits verkaufen sich Dystopien im Moment noch sehr gut, also go, Coppenrath, go!

Ein anderes Foto erreichte mich von einem gewissen Nicola Bardola, der die folgende Verschandelung des Messehallenschildes bemerkenswert fand:

Falls das nicht gerade eine Veranstaltung mit Gerhard Seyfried war.

PETER HÄRTLING

Bei Kiepenheuer & Witsch hatte ich zwei Gespräche, eines davon mit Peter Härtling! Der ehemalige S.-Fischer-Lektor und Jugendbuchveteran hat auch eine Reihe anspruchsvoller Künstlerbiographien vorzuweisen. Diese Bibliothek hat er nun um ein Buch über Verdi ergänzt.

Verdis Romanbiograph hatte ein wenig Zeit für mich.

BuchMarkt: Meine Mutter hat mir bei den Fragen geholfen, weil sie so ein großer Opernfan ist.

Peter Härtling: Das ist aber schön.

Sie haben schon viele Biografien geschrieben. Warum Verdi, und warum jetzt?

Verdi ist nun ein Alterspendant, mit dem ich Erfahrungen, Schmerzen und Einsichten teilen kann.

Sie schreiben über die Furcht, aus der Fantasie zu stürzen.

Das ist ganz wesentlich, ja. Die Beine tun’s nicht mehr, aber der Kopf funktioniert noch, und da mag man bangen, wie lange noch.

Ist das Schreiben eine leichtfüßige Freude oder eine Mühe, eine harte Arbeit?

Leicht ist es nicht. Es ist schon Arbeit. Aber ist ist Arbeit, die mich gefangen nimmt.

Welches Publikum möchten Sie denn erreichen, Jugendliche, Erwachsene, Einsteiger oder Liebhaber?

Es ist für Leser geschrieben, die zum Beispiel meinen Hölderin kennen.
Also erwachsene Leser mit Bildung und Interesse.

Vielleicht.

Oscar Wilde sagte, wer ihn beleidigen wolle, müsse nur „The Importance of Being Earnest“ loben, weil es keine Kunst sei, ein ohnehin populäres Werk zu loben. Geht es Ihnen mit „Ben liebt Anna“ ähnlich?

(lacht) Ja, das ärgert mich manchmal auch. Aber immerhin hat es dazu geführt, dass ich mir Leser erworben habe – die heute eben den Verdi lesen, den Hölderlin lesen, den Schubert.

Von „Ben liebt Anna“ haben Kinder gehört, ohne es gelesen zu haben. „Ach das“ sagen sie dann. Das mag Lob oder Tadel sein, aber der Titel ist ein Synonym für ein Jugendbuch, das man zu kennen hat.

Ich bekomme seit Erscheinen des Buches (1979) jede Woche Briefe dazu.

Haben Sie unter Verdis Opern einen Liebling? (Sag Othello, sag Othello)

Den Othello.

Ja, das merkt man. (Danke, Mutter.)
Wieso hat Verdi sich all dieser literarischen Quellen bedient? Hugo, Dumas, Shakespeare, Schiller. Kann so ein Komponist denn nichts eigenes erfinden?

Ein Komponist ist in erster Linie auf einen Texter angewiesen, aber er war ein eminenter Leser und auch ein großer Shakespearefreund. Deswegen auch Macbeth, Othello, Falstaff. Es inspirierte ihn, und es war gut, dass solche große Literatur vorhanden war.

In der Oper wird entweder ganz hoch oder ganz tief gesungen, und dann auch noch auf Italienisch; Leute wollen aus Ehre sterben und aus Eitelkeit morden – das ist ja doch ein sehr hoher Abstraktionsgrad. Welche Relevanz hat Oper denn heute noch? Ist das nicht eine Nischenkunst wie meinetwegen das Kabukitheater?

Die Opernhäuser sind heutzutage eigentlich relativ gut besucht, im Gegensatz zu Konzerten zum Beispiel. Trotz der hohen Abstraktion bietet Oper Menschen, die sich mit ihr befassen, eine Griffigkeit der Musik, die hinreißen kann, die wegheben kann. Menschliche Stimmen gehen einem nah.

Warum will meine Mutter, dass ich Sie frage, ob Sie Verdianer oder Wagnerianer sind?
Das ist ein Graben, der durch die Musikliebhaber geht. Verdi nannte Wagner immer „den Germanen“. Beide waren große Komponisten. Wagner war ein mieser Charakter, Verdi ein großer.
Was halten Sie von der Entwicklung im Jugendbuch? Überall gibt es Zauberer, Mischwesen und Wiedergänger. Ist es gut, dass überhaupt gelesen wird, oder sollte es schon auch gute Bücher sein?

Ich nehme an, dass die Ansicht „Hauptsache, es wird gelesen“ nicht sonderlich hilfreich ist. Nicht auf lange Sicht. Denn man muss doch fragen „WAS wird gelesen?“ Ich finde diese Veralberungen und Entstellungen unserer Welt und unseres Lebens für Kinder eigentlich schon etwas gewaltig.

Aber kann ein schlechtes Buch nicht dennoch ein guter Einstieg ins Lesen sein?

Wenn es schlecht geschrieben ist, nicht.

Kann das ein Kind unterscheiden?

Ich wünsche mir zumindest immer wieder, dass Kinder es schaffen, aus dieser ausschließlichen Fantasiewelt auszubrechen und sich auch anderen Dingen zuzuwenden.

Peter Härtling

MAITE KELLY & BRITTA SABBAG

Auf der letzten Leipziger Buchmesse war es Maite Kelly, die von weitem meine Ohren erblickte und sofort verlangte, mich zu sprechen. Ich will nicht leugnen, dass ich diesen Effekt beim Tragen dieser Dinger durchaus einkalkuliere und erhoffe. Jedenfalls verabredeten wir uns damals schon für Frankfurt, und so geschah es denn.
Bei ars Edition hatten Maite Kelly, Britta Sabbag und Joëlle Tourlonias das anrührende Bilderbuch „Die kleine Hummel Bommel“ zusammen gemacht, komplett mit Musik-Download für den Tränendrüsensoundtrack. Zwei von ihnen – Kelly und Sabbag – waren auf der Frankfurter Buchmesse. Ganz knapp, bevor die beiden zum Flugzeug mussten, konnten wir endlich unser Date nachholen.

Am Ende dieses Gespräches werden wir weinen.

Maite: Schön, dass wir uns endlich sehen nach einem so langen Weg!

Britta: Ja, und diesmal ist leider nicht die Illustratorin dabei, dafür aber die zwei Autorinnen.

BuchMarkt: Für mich ist dieses Vorgehen ungewohnt. Normalerweise muss ich mich als Journalist um meine Termine bemühen. Aber als Maite Kelly in Leipzig meine Ohren gesehen hat, hat sie sofort gerufen: Ich will diesen Mann.

Britta: Die sind ja auch unwiderstehlich. Man möchte da reingreifen und wuscheln.

Maite: Sie symbolisieren den Esel.

Äh – das sind eigentlich Katz-

Maite: Den unbeirrbaren Esel, der Maria und später auch Jesus nach Jerusalem brachte. Das ist das Grau in Deinen Haaren.

Ich gebe zu: Du hast mich genau durchschaut. Wer kam denn auf die grundsätzliche Idee, dass alle Insekten aussehen wie Menschen in Schlafanzügen?

Maite: Das war eine Mischung aus beidem. Wir haben gesagt, wir können uns sehr gut vorstellen, dass die Hummeln menschliche Köpfe haben sollen. Aber wir wussten nicht, ob das umsetzbar ist. Die Chucks waren natürlich Pflicht, das ist klar.

Britta: Joëlle hat das aus unseren Herzen abgemalt. Wir mussten nur sehr wenig erklären, sie ist schon eine absolute Künstlerin.

Maite: Wir hatten noch keine Illustratorin. Wir haben die Geschichte fertig an ars Edition geschickt, weil wir wussten, dass wir da in einem guten Hause sind. Der Verlag hat die Illustratorin gepitcht, und sie war die erste, die uns etwas geschickt hat.

Britta: Sie hat als Antwort gleich eine Skizze geschickt.

Maite: und wir haben gesagt: Ja, das ist es. Sie bringt auch die nötige Ruhe rein. Wir beide sind sehr pathetisch, ich als Amerikanerin sowieso –

Britta: – und ich bin einfach emotional. Ich heule bei allem sofort los.

Maite: Eine chronische… Emotions- (denkt nach) …-figur.

Ein ständiges Wechselbad der Gefühle.

Maite: So kann man das beschreiben.

Sind Kinderbücher auf Englisch leichter zu schreiben als auf Deutsch?

Maite: In der deutschen Sprache kann es auch manchmal zuviel Zucker sein. Aber Joëlle bringt da den nötigen Raum hinein.

Diese Geschichte spielt ja in einer sehr liberalen, ökumenischen Welt, wo Fliegen, Hummeln, Wespen und Spinnen alle lieb zueinander sind. Wie realistisch sollte denn ein Kinderbuch sein?

Britta: Aber die kleine Hummel wird ja geärgert, richtig geärgert!

Maite: Ja, wenn Du die Lesung hörst, wie wir da loslegen!

Britta: So schlimm wird die geärgert von den anderen Insektenkindern!

(Maite springt in die Rolle eines mobbenden insektoiden Arschlochkindes, das den Duktus von Bill Ramsey hat)
Maite: „Gehst Du jetzt nach Hause? Mit Deinen winzigen Flügeln kannst Du doch nie und nimmer fliegen!“

(Ich erschrecke.) Das ist ja furchtbar.

Britta: Also so nett ist die Welt dort nicht.

Maite: Das Hörbuch ist schon hart! Und noch schlimmer als die Zweiflung von außen ist die Zweiflung, die von innen kommt.

Es heißt „Zweifel“. Darf ich Deinen wundervollen Ausdruck trotzdem unredigiert stehen lassen?

Maite: (lacht) Klar!

Britta: Das ist eine Erfahrung für die kleine Hummel, dass es nicht nur Mama und Papa gibt und alles ist gut, sondern dass es auch Zweifel und Hindernisse gibt im Leben.

Maite: Und es braucht viel Humor, um diese Zweifel wieder aus ihr herauszukriegen. Sie braucht guten Input, und deshalb brauchen wir gute Menschen auf dieser Welt.

Du kannst ruhig weiter „Zweiflung“ sagen. Im Buch gibt es eine Fliege, die Pastor ist. Pastor Fliege. Wer kam denn darauf?

Britta: Das konnte ich mir nicht verkneifen.

Es wird einen zweiten Band geben?

Britta: Jawohl, und auch dort gibt es Gastauftritte. Amadeus Ameise ist Karl Lagerfeld. Und die Queen Mum wird die Queen Made. zeigt Entwürfe aus dem zweiten Band.

Wow, darf ich das fotografieren?

Maite: (lacht freundlich) Nein. Aber schau mal, die Queen Made hat sogar ein hellblaues Kleid an. Und das sind eben die Zeichnungen von Joëlle. Sie hat verstanden… the Twig.

In etwa: Sie hat’s kapiert, sie hat den Bogen raus, sie hat das gewisse Etwas.

Maite: Und die Songs sind auch wunderschön.

Britta: Wer da nicht weint, der hat ein Herz aus Stein.

Ich sehe das nicht so eng, denn ich mag Pathos.

Maite: Aber es ist gutes Pathos. There’s good sugar, and there’s bad sugar. Not bad Pathos. Dumbo Pathos. Der Landstreicher ist glücklicher als die Ameise. Das ist Poesie.

Britta: Ja, das darf man.

Wir blättern alle drei in den Skizzen von Hummel Bommels nächster Reise, bis wir weinen. Maite singt.

Bitte recht freundlich!
Uuuuuund Abflug. Timing ist alles auf solchen Messen.

DENISE LINKE

Im Berlin-Verlag hat eine Autistin ein Buch über ihr wunderbares Leben herausgebracht. Denise Linke hat Asperger und ADHS, was für sich genommen schon keine einfache Mischung ist. Ihr Leben war ja auch nicht immer einfach, sondern meistens kompliziert. Aber das liegt in der Natur der Sache. Als Fachmann für Awkward Behavior aus internen Gründen habe ich die große Freude, mit Denise Linke zu sprechen.

Lesenswert auch für alle neurotypischen Menschen

BuchMarkt: Wie gefällt es Ihnen auf der Messe?

Denise Linke: Es ist ein Wunder, dass ich mich hier überhaupt auf ein Gespräch konzentrieren kann. Immer, wenn ich denke, ich habe mich satt gesehen, entdecke ich etwas Neues. Ich bin ja froh, dass ich hier nichts kaufen kann. Ich würde arm nach Hause gehen.

Wenn ich in meiner Buchhandlung morgens die Kisten öffne, will ich auch jedes zweite Buch haben.

Irgendwann wohnt man dann in der Buchhandlung.

Das stimmt! Ich habe tatsächlich mal die Wohnung über diesem Laden bezogen. Aber ich habe die Nachteile erst hinterher begriffen.

Aber was gibt es denn da bitte für Nachteile?

Keine Distanz. Man ist erreichbarer.

Ich kenne das. Mein Büro ist in meiner Wohnung, und ich muss allen meine private Telefonnummer geben, und die rufen dann auch geschäftlich morgens um sechs an. Guten Morgen.

Wie interessant ist es, dass Asperger und Autismus immer mehr in die öffentliche Wahrnehmung treten? Wie finden Sie die Art und Weise, wie das geschieht? Wir alle haben Sheldon Cooper ins Herz geschlossen und lachen über ihn, weil sich überraschend viele mit ihm identifizieren können. „Das Rosie-Projekt“ führt die Bestenlisten lange an. Ist das Zeitalter der Nerds das Ankommen in einer Asperger-Gesellschaft? Das Internet wimmelt von Leuten, die sagen „Ach, so bin ich eigentlich auch.“

Asperger ist ein großer Mix aus vielen verschiedenen Symptomen. Die noch dazu nachvollziehbar sind.

Reize verarbeiten muss jeder, aber Angst vor Clowns oder Erdnussbutter ist wiederum sehr speziell.

Genau. Mit irgendeinem Asperger-Symptom kann sich bis zu einem gewissen Grad wirklich jeder identifizieren.

Aber das wäre vor hundert Jahren noch nicht so gewesen. Der Typus des Sonderlings mit Berg- und Talbegabungen ist heute präsenter.

Ich denke, dass sich daran die wachsende Individualisierung der Gesellschaft zeigt. Vor hundert Jahren hat man seine eigenen Gefühle und Probleme nicht in dieser Weise herausgestellt, zum Gegenstand öffentlichen Diskurses und Humors gemacht. Früher hat man sich mehr in Rollen bewegt, heute muss jeder zeigen, dass er individuell ist. Das ist für uns ein angenehmes Umfeld, in dem wir Beachtung finden. Dann ist es dieses Nerd-Ding: Die Nerds sind im Beruf angekommen und verdienen alle Geld in Silicon Valley. Es gibt extrem viele Nerds, die Asperger haben.

Weil es mit Asperger eine sehr passende Nische ist, in die man schlüpfen kann?

Aber es gibt auch viele Nerds, die kein Asperger haben, und es gibt extrem viele Menschen mit Asperger, die keine Nerds sind. Das ist eben einfach ein sympathisches, öffentliches Bild, das passt.

Aber ist das hilfreich? Was ist Ihnen lieber? Indifferente Sympathie oder präziser Argwohn?

Ich glaube, dass wir das differenziertere Bild jetzt langsam angehen können,und das hätte umgekehrt nicht funktioniert.

Der Zugang über die Comedy ist also legitim.

Erst einmal hilfreich. Wenn Menschen erst mal an dem Punkt sind, wo sie uns wahrnehmen und sympathisch finden, dann hat man einen Ansatzpunkt, dann hat man Aufmerksamkeit und Interesse. Und dann kann man leichter mit der Aufklärungsarbeit beginnen.

Schauen Sie Big Bang Theory?

Sehr gerne.

Kommen Sie oft in die Situation, dass Sie Sheldon besser verstehen als die anderen Figuren?

Manchmal. Das ist natürlich immer sehr übertrieben, aber schon vor meiner Diagnose dachte ich, er ist der einzige in dieser Sendung, der Sinn macht.

Was wird durch die Diagnose anders? Nur weil man jetzt weiß, wie das, was man hat, heißt?

Wie das heißt, ist mir egal. Wir können das auch „Hackepeter“ nennen. Ich glaube tatsächlich, dass es sehr wichtig ist, Menschen zu finden, denen es geht wie einem selbst. Und das ist nun mal am einfachsten, wenn man dem Kind einen Namen gibt, unter dem man sich dann versammeln kann. Dann kann man sich miteinander austauschen. Solange unsere Gesellschaft die Menschen noch nicht wie Menschen, sondern wie Fälle behandelt, ist es hilfreich, wenn man sich zu klassifizieren weiß. Es hilft anderen, wenn Sie wissen „Dieser Mensch verhält sich auf eine bestimmte Art und Weise, und das hat einen Grund.“ Menschen beruhigen sich, wenn sie Gründe kennen. Dann können Sie leichter mit etwas umgehen. Wenn wir erst einmal einsehen, dass jeder Mensch Hilfe braucht, dann brauchen wir auch keine Klassifikationen und Bezeichnungen und Syndrome mehr.

Viele Asperger-Patienten sind auf Nachahmung und Beobachtung trainiert. Kann man so tief in seinem Asperger drinstecken, dass man im Nachahmen normaler Menschen so perfekt wird, dass man es selbst nicht mehr merkt?

Das wäre kontraproduktiv, aber das kann man schaffen. Wenn man das unbewusst macht, dann wird es schwierig für den Therapeuten. Viele Asperger-Patienten sind nicht auffällig. Kein Mensch möchte sich verletzbar machen, zumal nicht öffentlich. Diese Mauer ist ganz natürlich. Und wenn die gut funktioniert, wird es extrem schwierig, die zu überwinden – selbst, wenn man sich dieser Mauer bewusst ist. Man möchte ja stark sein und toll, und nicht seine Schwächen zeigen. Darin liegt die Gratwanderung. Wir können ja auch was, wir wollen ja gerne zeigen: Schaut mal, wir sind nicht bescheuert. Wir sind wie Ihr, aber wir haben Defizite.

Das ist ja auch bei Nicht-Aspergern so.

Sage ich doch! Wir sind nicht so anders.

Wir Asperger sind es eigentlich, die fremd sind auf einem Planeten mit Wesen, die alle zu wissen scheinen, was sie zu tun haben.

Unsere Probleme sind nicht so anders wie die anderer Menschen. Sie sind nur anders ausgeprägt.

Jeder ist erschöpft, wenn er einen langen Tag hatte, egal wie fröhlich.

Bei uns braucht es halt keinen fröhlichen, langen Tag. Typische Asperger-Eigenschaften sind keine sehr unmenschlichen Eigenschaften, sondern zutiefst menschliche, die eben extrem verstärkt sind.

Deswegen kann man sich auch so gut mit Sheldon Cooper identifizieren, und deswegen gibt es so wenige lustige mongoloide oder spastische Figuren im Fernsehen.

Genau. Aber dieses „ich habe jetzt keine Lust, irgendwo hinzugehen und Menschen zu treffen“, dieses leicht Sozialphobische, das kennt halt jeder mal. Der große Unterschied ist eben, ob man „gerade mal keine Lust hat“, oder ob man Asperger hat und es Probleme bereitet, Menschen zu treffen.

Was gerade bei Ihrem öffentlichen Auftreten sicher immer wieder in Vergessenheit gerät?

Genau. Man sieht, wie ich in der Öffentlichkeit stehe, rede und Dinge tue, aber man sieht nicht, wieviel Zeit und Kraft es mich hinterher zuhause kostet, das alles zu verarbeiten und mich zu regenerieren. Warum auch? Das geht ja niemanden etwas an, ob ich zwölf Stunden lang schlafen muss, um ein Gespräch zu verarbeiten. Aber um eben das zu vermitteln, um unsere tatsächliche Welt zu vermitteln, brauchen wir eine ganze Bandbreite an Autisten, die viele Dinge an die Öffentlichkeit tragen können. Aber ich glaube, das wird noch dauern.

Wie bei den Depressiven: Die sind auch nicht einfach nur traurig, und die können sich nicht „einfach mal zusammenreißen“. Es ist ein pathologischer Zustand. Was ist die häufigste aller nicht so tollen Fragen, die man Ihnen so stellt?

Ob ich Sex habe. Was ich ja absurd finde. Ich sage dann „Ja, und wahrscheinlich ähnlichen wie Sie.“

Sind Alkohol und Marihuana eine Hilfe, Ordnung in den Kopf zu kriegen?

Ich glaube, Alkohol ist tatsächlich eine Hilfe in den Momenten, wo man sich sozial verhalten muss. Je mehr ich getrunken habe, desto egaler ist mir der Grad meiner Ängste und Bedenken. Es wird nicht leichter, aber hey, es wird egaler. Und gekifft habe ich immer, um auf ein normales Energielevel herunterzukommen. Dadurch, dass ich ADHS und Autismus habe, überfordere ich mich permanent selber.

Hat das auch Ihre Diagnose erschwert?

Ja, weil sich das gegenseitig ein wenig aushebelt oder überdeckt. Ich bin nicht so in mich gekehrt, wie man es erwarten würde, aber ich war auch nicht so hyperaktiv, wie man es bei einem typischen Fall erwarten würde. Ich war halt seltsam.

Und wie haben Ihre Eltern reagiert?

Die haben gedacht, erst mal abwarten. Kann ja laufen. Ist ja gesund.

Gelebte Inklusion. Woher kennen Sie She-Hulk?

Ich rede nicht gerne über Menschen, ich rede lieber über Comics und Filme und Bücher, Zitate und springe hin und her.

Kommen Sie sich nicht vor wie ein Astronaut auf einem fremden Planeten?

Ja. Es heißt ja immer, Autisten leben (äffend) „in ihrer eigenen Welt.“

Was ja gar nicht so schlimm wäre, wenn da nicht auch so viele andere leben würden.

(lacht.) Ja, da haben Sie recht. Im normalen Alltag habe ich vielmehr das Gefühl, ich wäre der Astronaut, aber dieser Begriff wird von außen gerne umgekehrt gebraucht. Wenn die „Normalen“ uns in unserer „eigenen Welt“ besuchen, dann heißen wir die Astronauten willkommen – wo immer diese eigene Welt auch sein mag.

Wenn nicht als Astronaut, wie kommen Sie sich dann vor?

Ich selbst komme mir vor wie Jane Goodall, und ich schaue mir Affen an, die komische Sachen machen.

Obwohl ich genau weiß, was Sie meinen, wäre das jetzt wieder so ein Satz, der auch von Sheldon Cooper kommen könnte. Gelesen wird das unfreundlich aussehen.

Aber genau so habe ich Smalltalk gelernt: Ich habe Menschen dabei studiert, wie sie absurde Dinge tun. Als würde ich im Busch sitzen und Stammesverhalten studieren. Ich habe mir wirklich Notizen gemacht. „Zwischendurch mal lachen.“

Was ist denn für Sie im Leben einfacher als für neurotypische Menschen?

Ich kann benennen, wo mein Problem ist. Ich kann sagen: Ich muss jetzt alleine sein, damit ich nicht den Verstand verliere. Neurotypische Menschen haben es da schwieriger, weil sie unreflektierter sind: „Ich bin ja normal, ich muss mich halt mal zusammenreißen.“ Neurotypische Menschen machen sich nicht so viele Gedanken. Wir machen uns ständig Gedanken, weil wir ständig als komisch angesehen werden. Wir haben den Grad unseres Andersseins viel gründlicher ausgelotet als jemand, der sich normal fühlt.

Wie sie dasitzt! Ganz autistisch und in ihrer eigenen Welt –
oder doch einfach nur wie Du und ich, nur eben nicht einfach?

Und schließlich und endlich JÖRG THADEUSZ!

Ebenfalls im Hause KiWi treffe ich den WDR-Spaß-Talker und Pelle-rück-Journalisten aus frühen „Zimmer frei!“-Tagen Jörg Thadeusz! In seinem Buch „Wie riecht die Queen?“ hat er die schönsten Interviews versammelt, von Iris Berben über Richard von Weizsäcker bis hin zu Marcel Reich-Ranicki. Das ist beachtlich für jemanden, der eigentlich nur necken will, und meinen eigenen Motiven womöglich nicht ganz unähnlich.
Ich darf mich beim berühmten TV-Kollegen also an die journalistische Nabelschau machen.

Von den Großen lernen: erst mal anbiedern.

BuchMarkt: Wie kann man denn Jörg Thadeusz provozieren?

Thadeusz: Mich provozieren? Mit esoterischem Unfug. Wenn Turnlehrerinnen Pilates lehren mit Wissen aus dem 17. Jahrhundert.

Ist das deren Inkompetenz?

Nein, das ist eine frei gewählte Ansicht. Ich bin ein großer Freund von Sachlichkeit und Durchdringung. Ich bin von Entdeckungen eher beeindruckt als von Behauptungen. Von Machbarkeiten eher als von Spekulation. Ich finde es toll, dass man das Internet erfunden hat. Dass es Leute gab, die sagten: Wir müssen das machen! Wir müssen uns vernetzen! Ich finde es nicht toll, wenn einer von Elektrosmog quatscht. Früher hat mich so etwas belustigt, mittlerweile provoziert es mich.

Was sind denn schwierige Situationen in TV-Interviews, die dann vielleicht geschnitten werden müssen?

Meine Inkompetenz bleibt immer sichtbar, da schneiden wir nichts raus. Es gab Gespräche, aus denen wir Längen und langweilige Teile herausgenommen haben, denn wir sind vom Programmsegment Unterhaltung. Aber es gab keine prekären Situationen.

Wie wichtig ist denn die Chemie im Gespräch? Haben Sie vorher die Möglichkeit zum Ausloten, wie gut Sie mit jemandem auskommen?

Das mache ich absichtlich nicht. Das Interview soll sich unmittelbar ereignen.

Aber man geht doch mit irgendeiner Erwartung ins Gespräch, das kann man ja nicht abstellen. Ich hatte wahnsinnige Angst vor Heino oder Alice Schwarzer, und das waren dann tolle Gespräche. Ich habe mich auch schon wahnsinnig auf Léa Linster und Nena gefreut, und es waren dann öde oder entsetzliche Gespräche.

Alice Schwarzer ist sehr charmant und witzig, aber es befindet sich der berühmte Elefant im Raum. Bestimmte Themen müssen Sie vermeiden, wenn Sie nur nettes Geplauder wollen. Sie bestimmen, welche Dinge Sie ansprechen, und so lässt sich sehr gut steuern, wie das Gespräch verläuft. Wenn Sie plötzlich die Temperatur wechseln, wird Frau Schwarzer das erwidern.

Sie müssen nicht das Gespräch kaputtmachen, nur damit Sie investigativ bleiben.

Mein Journalismus ist nicht investigativ. Ich kann nichts aufdecken, was mein Gesprächspartner nicht von sich aus erzählen will. Sicher kann ich versuchen, meinen Gesprächspartner zu kompromittieren, aber solche Momente will ich nicht für meine Talkshow.

Wurden Gesprächspartner schon mal einsilbig?

Ich hatte mit Heike Makatsch mal ein Gespräch, wo wir kein Ping Pong hinbekommen haben, und keiner von uns beiden war total schuld. Ich stellte täppische, dumme Fragen, um ihr zu gefallen, war ein bisschen zu glitschig.

Sie geben zu, dass Sie ihren Gesprächspartnerinnen gefallen wollen? Wie kann man das überhaupt heraushalten aus einem Gespräch? Natürlich bin auch ich nervös vor Gesprächen und hoffe, dass der Promi mich und meine Fragen gut findet.

Ein Interview ist in erster Linie ein Gespräch zwischen zwei Personen, von denen eine berühmter ist. Aber da kommt dann alles zum Tragen: Es kann ein schlechter Tag sein; es kann sein, dass man sich unsympathisch ist, dass man eben keine Brücke schlagen kann. Das ist aber fast nie unser Problem. Hauptsache, ich interessiere mich.

Gab es schon Gäste, die hinterher nachträgliche Bedenken anmeldeten, dass etwas nicht gesendet werden dürfe?

Jetzt, wo Sie fragen: Kein einziges Mal, erstaunlicherweise.

Hatten Sie Angst, als Sie zu Reich-Ranicki kamen?

Ja. Total. Die Hosen gestrichen voll.

Man merkt den Antworten auch seine Unlust an.

Naja, das weiß man ja vorher. Aber die einzelnen Umstände waren furchtbar. Er hatte vergessen, dass wir kommen. Hat uns über die Gegensprechanlage angeschrien, was wir denn wollen. Als nächstes hat mich seine Frau – weil ich Thadeusz heiße – auf Polnisch begrüßt. Dann hat er wieder herumgestänkert: „Der Mann heißt Thadeuzs und kann kein Polnisch, was ist das für eine Scheiße?“ Und während des Interviews klingelte dauernd sein Telefon. Als wir fragten, ob man das nicht abstellen könne, bellte er nur „Nein! Wie ist Ihre nächste Frage?“

Sie sind aber auch ein ganz furchtbarer Gesprächspartner. Sie reden schnell und viel. Sie fangen Sätze an und unterbrechen sich selber – es wird Stunden dauern, daraus etwas Lesbares zu machen. Sie nuscheln.

Aber wie!

Heino spricht druckreif. Heino spricht druckfertige Sätze klar und deutlich.

Heino baggern wir auch schon dermaßen lange an. Wo haben Sie denn den getroffen?

Auch hier auf der Messe. Waren Sie schon mal schlecht vorbereitet?

Ja. Erstaunlich selten zwar, weil früher, im Radio, fand ich das fast schick. Mit jedem Jahr nimmt die Intensität an Vorbereitung eigentlich eher zu. Ich möchte meinen Gast ja auch ein wenig einschüchtern, weil ich mich in seinem Gebiet behaupten kann. Aber in bin in das Gespräch mit Armin Mueller-Stahl etwas hineingestolpert, weil ich mich zu sehr auf Sachen konzentrierte, die er gar nicht so gerne besprechen wollte.

Das ging mir mit Uwe Ochsenknecht genauso. Der bat dann um ein wenig Abstand zu den Boulevard-Themen…

Ja. Ich denke mir, man kann gar nicht genug wissen über ein Thema, über das man sprechen will.

Gibt es eine Frage, die Sie sich wünschen?

„Was gehört zu einem guten Hühnerfrikassee?“

Ist das Ihr Gebiet?

Ja, das ist mein Signature Dish. Man muss gute Hühnerbrustfilets nehmen und frische Pilze.

Ich hatte erwartet, dass Jörg Thadeusz kleiner ist!
Alte Schule: Gewusst wie.

A B S C H L U S S

Und das war es nun wirklich für 2015. Nach dieser immensen Gesprächsballung werden Sie verstehen, warum ich das nicht auch noch live dazuquetschen konnte. Mir glühen jetzt noch die Finger.
Und hiermit endet auch mein Fotoaufruf.
Was immer Sie noch beizusteuern haben, kommt auf den 2016er Stapel.

Frohe Weihnachten.

Herzlichst,
Ihr und Euer
Matthias Mayer

Unerwartete Indonesier, Teil 7 von 6:
Der Äquator

herrmayer@hotmail.com

www.herrmayer.com

zur gestrigen Kolumne: [mehr…].

zu seinen früheren Kolumnen hier http://www.buchmarkt.de/content/kolumne.htm

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert