Gerhard Beckmanns Meinung – An Cornelia Funkes Tintenherz zeigt sich, dass deutsche Bestsellerlisten Volksverdummung bedeuten

Schon wieder Ärger mit deutschen Bestsellerlisten. Und, natürlich, ist man fast versucht zu sagen, entzündet er sich an der SPIEGEL-Liste. Wohl deshalb, weil sie noch immer das Ranking darstellt, das als verkaufswirksamstes gilt und insbesondere von Verlagen als maßgeblich empfunden wird.

Also, der Dressler Verlag ist konsterniert. Tintenherz, das neue Werk von Cornelia Funke, ist, obwohl mehr als hunderttausendmal vorbestellt, trotzdem nicht für die Belletristik-Liste des SPIEGEL nominiert.

Warum? Weil, so heißt es, Jugendbücher dort nicht vorgesehen sind.

WILLKÜR!!!!

Denn – so sieht man es keineswegs nur bei Dressler – die dort auf der Belletristik-Liste seit Jahren dominanten Harry Potter-Romane der J.K. Rowling sind doch auch Kinder- und Jugendbücher. (So wie, könnte man ergänzen, zuvor schon Jostein Gaarders Sofies Welt.)

Und, um das Gegenargument dazu gleich zu entkräften, Eine riesige Fangemeinde unter erwachsenen Lesern hat Cornelia Funke ebenfalls.

Im übrigen zählt Cornelia Funke gleichfalls zur Weltklasse der Autoren. Tintenherz wird in Deutschland, Großbritannien, in den USA, Kanada–und Australien aus Marketing- und PR-Gründen in der kommenden Woche gleichzeitig erscheinen. Das wird nur bei wenigen internationalen Top-Autoren so gemacht. Gibt es außer Cornelia Funke noch einen anderen deutschen Schriftsteller, der solche Sonderbehandlung erfährt?

In Anbetracht all dessen ist man spontan geneigt, gegen den SPIEGEL für Dressler Partei und seine herausragende Autorin Partei zu ergreifen. Verleihen wir doch einem bereits spürbaren Ressentiment Ausdruck: Fremdsprachige Kinder- und Jugendbücher kommen auf die deutschen Belletristik-Bestsellerlisten, deutschen wird es verwehrt.

UNGLAUBLICH!

Wie kann so etwas möglich sein?

Erster Versuch einer Erklärung, die manchem blöd vorkommen mag, weil sie oberflächlich ist – nur ist sie darum ja noch nicht falsch. Jostein Gaarder. J.K. Rowling und – in ihrem Gefolge – Eon Colfer Artemis kamen gleich mit ihrem ersten Titel bei uns auf die Listen, weil sie völlig unbekannt und neu waren. Sie waren noch nicht als Kinder- und Jugendbuch-Schriftsteller schubladisiert. Cornelia Funke dagegen ist in Deutschland als Kinder- und Jugendbuchautorin eingeführt und klassifiziert.

Zweiter Versuch einer ärgerlichen, weil nicht minder oberflächlichen und trotzdem nicht ganz unzutreffenden Erklärung: Jostein Gaarders Erstling erschien im KiJu-Startprogramm von Hanser – einem klassischen belletristischen Publikumsverlag; Eon Colfer, ditto, bei List; J.K. Rowling bei Carlsen, der mit seinem Comics-Programm bereits weit über die anfängliche KiJu-Schiene hinaus aktiv und präsent war. Dressler dagegen ist – trotz Erich Kästner – ein reiner Kinder- und Jugendbuch-Verlag, mit entsprechend speziellem Marketing wie Vertrieb und demgemäss nur sektoralem Eck in der Wahrnehmung des Sortiments.

Beides mag die Nominierung von Cornelia Funkes Tintenherz für die Belletristik-Liste des SPIEGEL behindert haben. Die eigentliche, entscheidende Ursache ist freilich eine ganz andere. Sie geht auf die generell vorsintflutlichen Methoden zur Bestseller-Erfassung in Deutschland zurück.

Da ist uns in den vergangenen Jahren so manches von technischer Modernisierung erzählt worden. Und die Umstellung von Nennungen, die meist auf lediglich subjektiven Schätzungen der meistverkauften Titel durch die beteiligten Sortimenter beruhte, auf die heutige, von der MediaControl mit dem Nachrichtenmagazin Focus initiierte Praxis , die per Scanner an der Kasse auf tatsächlichen Verkaufszahlen basiert ist zweifelsohne eine Fortschritt.

Dennoch bleibt sowohl den heutigen Spiegel- wie Focus-Bestsellerlisten gegenüber die Frage, inwieweit sie effektive Verkaufszahlen reflektieren. Sie erfassen nämlich bei weitem nicht genug Buchhandlungen und Buchverkaufsstellen. Sie sind somit weit von den wirklichen Absatzzahlen entfernt. D.h. sie gehen von einem viel zu geringen Zahlenmaterial aus, das dann nach komplizierten Schlüsseln auf ein angeblich repräsentatives Gesamtbild an-, hoch- und umgerechnet wird.

Solche Schlüssel mögen ausgeklügelter sein als früher. Prinzipiell bleiben sie unbefriedigend. Wer je verlegerisch oder vertrieblich flächendeckend mit Buchverkäufen zu tun hatte, weiß, wie unterschiedlich Regionen und oft sogar unterschiedliche Viertel ein und der selben Stadt, wie unterschiedlich selbst eigentlich vergleichbare Sortimente je nach Profil und Engagement einen Titel verkaufen. Deshalb können alle statistischen Bewertungsmodelle bei schwacher Zahlenbasis eigentlich bloß fiktive Mengengelage wie fiktive Rangfolgen ergeben.

In Großbritannien, wo Nielsen die Bestsellererhebungen auf der Basis einer nahezu kompletten Berücksichtigung der dortigen Buchhandlungen – und -verkaufsstellen besorgt, sind die den Bestsellerlisten zugrunde liegenden und offen gelegten Verkaufszahlen pro Titel so gut wie identisch mit den Absatzziffern der Verlage. Davon ist man bei uns allen Informationen zufolge weit entfernt.

Und daraus können auch erstaunliche Listungs-Divergenzen resultieren. Nur ein Beispiel: Auf der Spiegel-Bestsellerliste steht Hillary Rodham Clintons Gelebte Geschichte aktuell noch auf Platz 5. In der Amazon-Reihung, die nackte Verkaufszahlen spiegelt, befindet sich das Buch nicht einmal unter den ersten hundert meistverkauften Titeln.

Das Nielsen System unterscheidet sich von den bei uns üblichen Methoden noch in einem andern wesentlichen Punkt. Da werden die Absätze per Scanner rein titelbezogen elektronisch von den Kassen abgeholt und erst anschließend nach Belletristik, Allgemeines Sachbuch etc kategorisiert. So etwas ist bei uns offenbar noch nicht möglich. In Deutschland scheint es so zu sein, dass die Titel nicht absolut, nicht jeder für sich erfasst wird,. sondern von vornherein im Rahmen der – in sich wiederum fragwürdigen Ordnung der – Warengruppen, in die sie eingeordnet sind. In deren Mengen-Kontext werden sie nach dem oben skizzierten. problematischen Modell bewertet.

Eine bereits als Kinder- und Jugendbuch-Autorin klassifizierte Autorin wie Cornelia Funke könnte demzufolge in der Belletristik gar nicht auftauchen – selbst wenn sie bei vielen Buchhandlungen in der belletristischen Abteilung geführt und verkauft wird. Sie ist in der falschen Warengruppe. Und selbst wenn: Die dort getätigten Käufe .würden sich mit den Käufen in der Abteilung Kinder- und Jugendbuch nicht addieren – und der Titel somit wieder als Bestseller ausscheiden.

Es ist alles in allem ein verrücktes System. Das Dilemma des Dressler Verlags und seiner deutschen Star-Autorin legt diese Verrücktheit gnadenlos offen.

Können wir so überhaupt erfahren, welche Bücher in Deutschland wirklich Bestseller sind?

Für den Buchhandel wären echte Bestsellerlisten wichtig – das Publikum würde sich mit seinen Interessen in ihnen wiederkennen und vermutlich mehr kaufen.

Die Verlage hätten ein brauchbares Marketing-Instrument,. auch für Programminvestitionen.

Unsere heutigen Bestsellerlisten sind höchstens ein Werbe-Instrument, und selbst als solches alles andere als optimal – vielleicht sogar , nur mal so dahin gesagt, das Werkzeug einer Wettbewerbsverzerrung.

Die deutschen Bestsellerlisten bedürfen, ebenso wie die deutsche Warengruppensystematik, dringend einer gründlichen Reform.

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los gehts.

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