Robert Gernhardt Preis für Gila Lustiger und Annika Scheffel

Gila Lustiger, Annika Scheffel

Vorgestern Abend wurde im Theater Willy Praml in der Frankfurter Naxoshalle zum siebenten Mal der Robert Gernhardt Preis verliehen. In diesem Jahr wurden Gila Lustiger und Annika Scheffel ausgezeichnet.

Hausherr Willy Praml begrüßte die zahlreichen Gäste: „Trotz aller städtebaulichen Versuche, dieses bemerkenswerte Industriedenkmal abzuschirmen, erhält an diesem Abend die Literatur – Schwester des Theaters – mit der Preisverleihung eine besondere Stimme.“

Zum dritten Mal fand die Auszeichnungsfeier in der Naxoshalle statt. Praml verknüpfte als Gastgeber der Veranstaltung seine Worte mit einer Bitte an den hessischen Kultusminister Boris Rhein, diesen Kulturort weiter zu unterstützen.

Minister Boris Rhein würdigte die Naxoshalle, Spielstätte des Theaters Willy Praml, als „Einrichtung, die sich ihren Platz erst erkämpfen musste“. Die Industriehalle passe gut zu dem Preis, der für noch nicht fertige Literatur vergeben wird. Zwölf Preise wurden bisher ausgelobt, darunter vier für Lyrik. Zehn Projekte konnten so erfolgreich veröffentlicht werden. Der Preis, der den Namen des bekannten Schriftstellers, Zeichners und Malers Robert Gernhardt (1937-2006) trägt, sei auch Verpflichtung.

Die Jury – Eva Demski, Karl-Heinz Götze, Christoph Schröder und beratend Harry Oberländer – hatte 49 Einsendungen zu bewerten, das Verfahren ist anonym.

Die diesjährigen Preisträgerinnen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Romanprojekten. In Gila Lustigers Die Entronnenen geht es um das Camp für Displaced Persons in Frankfurt-Zeilsheim, in dem von 1945 bis 1948 durchschnittlich mehr als 3000 jüdische Menschen lebten.
Annika Scheffel erzählt in Hier ist es schön von einer Reise ohne Rückfahrkarte, die vier Menschen auf den Mars bringen soll, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen.

Michael Reckhard, Mitglied der Geschäftsleitung der Wirtschafts- und Infrastrukturbank Hessen (WI Bank), die den Robert Gernhardt Preis stiftet und ihn gemeinsam mit dem hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst vergibt, lobte die Literatur: „Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, betreten wir einen neuen Raum, der dann für einige Zeit zu unserem Aufenthaltsort wird. Literatur ist wirkmächtig.“

Auf der Veranstaltung werden wie gewohnt auch die veröffentlichten Werke bisheriger Preisträger an die Gäste überreicht – ebenfalls eine anerkennenswerte Geste der WI-Bank. Reckhard wies nicht nur auf diese Aktion hin, sondern verkündete zudem, dass es Frank Witzel, Preisträger des Jahres 2012, mit seinem Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, 2014 veröffentlicht bei Matthes & Seitz, auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2015 geschafft hat.
Im Foyer liege ebenfalls der Roman Endspiel von Gernhardt-Preisträger Pete Smith, 2012, publiziert 2015 im Societäts-Verlag, bereit.

Sandra Kegel hielt die Laudatio auf die Preisträgerinnen. „Gila Lustiger und Annika Scheffel gehören unterschiedlichen Generationen an, beschäftigen sich mit weit voneinander entfernten Themen. Aber es sind verblüffende Korrespondenzen feststellbar: Was beide umtreibt, sind Anfänge.“

Gila Lustiger geht in ihrem Roman der Frage nach, wie man nach der Shoah neu anfängt, wie Leben nach solchen Erfahrungen überhaupt noch möglich ist. Kegel zitierte den Generalstaatsanwalt der Auschwitz-Prozesse Fritz Bauer, der 1949 sagte: „Wenn ich mein (Dienst-)Zimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland.“ Westdeutschland war nach dem Krieg keineswegs durchweg von Schuldgefühlen gebeutelt, man wandte sich lieber dem Wirtschaftswunder statt der Geschichtsaufarbeitung zu. Gilas Vater Arno Lustiger (1924-2012) hatte „schonend über die Vergangenheit geschwiegen“, wie die Tochter in So sind wir, Berlin Verlag 2005, schrieb. Nun lotet Gila Lustiger in ihrem Romanprojekt die Vergangenheit aus und verknüpft sie mit der Gegenwart.

Annika Scheffel zeichnet eine düstere Zukunftsvision. Sam und Irma, die jungen Auserwählten für die Marsmission, sollen auf dem roten Planeten für Nachwuchs sorgen, ein älteres Paar reist mit ihnen. Scheffel beschäftigt sich erneut mit dem Thema des Verschwindens, so wie bereits in ihrem Roman Bevor alles verschwindet, 2013 bei Suhrkamp/Insel erschienen.

Gila Lustiger und Annika Scheffel wurden anschließend die Urkunden und das Preisgeld in Höhe von je 12.000 Euro überreicht.

Annika Scheffel bedankte sich: „Ich werde mir Mühe geben“, sie verneigte sich vor dem Bild Robert Gernhardts.

Etwas mehr hatte Gila Lustiger in ihrer Dankesrede zu sagen: „Für mich ist es berührend, in Frankfurt zu sein“, begann die in der Mainmetropole geborene und in Paris lebende Autorin. Sie hätte ihr Romanprojekt nie begonnen, wenn sie im Internet nicht auf Dokumente ihres Vaters gestoßen wäre. Umfangreiche Recherchen folgten. „Die Akten belegten den Leidensweg meiner Familie. Mit einer gut durchdachten Routine wurden Häftlinge zur Zwangsarbeit oder für den Tod bestimmt.“

Abschließend bemerkte Gila Lustiger schlicht: „Nach Kriegsende waren zehn Millionen Displaced Persons in Europa unterwegs. Ohne die Entscheidung der Alliierten, diesen Menschen zu helfen, wäre meine Familie wohl gestorben.“

JF

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