Dr. Andreas Rötzer: wenn ein Kilo Äpfel 2 Euro kostet – darf dann ein Buch über Äpfel 100 Euro kosten?

Freitags um fünf: Was bewegt jetzt die Branche? Michael Lemsters Frage der Woche an Matthes & Seitz Berlin-Verleger Dr. Andreas Rötzer.

Dr. Andreas Rötzer, 1971 in München geboren, ist Doktor der Philosophie. Sein erster Verlagsjob machte ihn mit der finanziellen Seite des Geschäfts vertraut. 2004 übernahm er nach dem Ausscheiden von Axel Matthes den Matthes & Seitz Verlag, nachdem er dort seit 1999 als Buchhalter tätig war, und siedelte ihn in Berlin an.

Dr. Andreas Rötzer, Verlage mit Ihrem Profil werden gerne mit der tätschelnden Bezeichnung „Kleinverlag“ oder, politisch korrekter, „Independent“ belegt. Fühlen Sie sich als Kleinverleger?

Andreas Rötzer

Andreas Rötzer: Also ich mag weder die eine noch die andere Bezeichnung. Ich bin einfach Verleger. Matthes & Seitz Berlin ist strukturell ein kleiner Verlag, aber kein Kleinverlag. Wir veröffentlichen im Jahr 40-50 Bücher. Die politisch korrektere Bezeichnung „Independent“ verniedlicht die Tatsache, dass wir professionell im Markt stehen und von unserer Arbeit leben und leben müssen. Damit meine ich nicht nur mich, sondern auch meine Angestellten. Ich stelle mir eher die Frage, wo ein Verlag aufhört, ein Verlag zu sein, und zum Konzern wird. Bei uns soll jeder – Verleger wie Mitarbeiter – alles über jedes Buch im Programm wissen. Sobald diese Kapazitätsgrenze überschritten wird, betritt man als Verlag ein ganz anderes Geschäftsfeld. Dann beginnen andere Mechanismen zu wirken. Die sind auch interessant und überhaupt nicht schlecht. Aber es ist dann etwas anderes, und dieses Andere wirkt sich auch auf die Programmgestaltung aus.

Anders als viele Verlage, die abseits des Mainstreams Programmarbeit machen, steht Ihr Verlag auf den Schultern von Riesen – der progressiven französischen Intelligenz des 20. Jahrhunderts. An diese Monumentalität erinnert auch Ihr Verlagssignet. Was wird da gezeigt?

Andreas Rötzer: Das ist die Femme de Djinn, Symbol einer weiblichen Gottheit. Axel Matthes fand die Grafik in einer französischen Zeitschrift. Das ursprüngliche Verlagsprogramm entstand aus dem Surrealismus und dessen Dissidenten, Walter Benjamin und der älteren wie der jüngeren französischen Rationalismus-Kritik. Die Femme de Djinn steht für das nicht allein Vernunftgebundene, für das Lebendige, sich Bewegende, Ekstatische, das nicht Regelhafte, für alles, was man nicht so leicht einordnen kann.

Die Grenzen der romanischen Philosophie und Literatur haben Sie, nachdem Sie 2004 den Verlag übernommen und nach Berlin überführt haben, gesprengt und sind in allen intellektuellen Provinzen auf Reisen. Suchen Sie dabei eine Klammer, die alles zusammenhält?

Andreas Rötzer: Das ist wahrscheinlich die Neugierde auf alles, was in unserer Gegenwart passiert. Selbst wenn wir alte Texte wieder auflegen, tun wir das unter der Prämisse, dass sie einen Bezug zur Gegenwart enthalten. Daher versehen wir Neueditionen und Entdeckungen älterer Werke mit Vorworten, die solche Bezüge herstellen. Wir wollen kein Museum sein, sondern ein lebendiger Verlag, der Antworten auf Fragen von heute gibt und Fragen stellt, die heute relevant sind. Das ist vielleicht, abstrakt gesprochen, diese Klammer. Geographisch gesehen, beschäftigen uns heute auch Osteuropa und vor allem Russland, wobei wir immer wieder auch aus anderen Kulturgebieten interessante Titel bringen. Thematisch betrachtet, interessieren uns besonders die Themen Natur, Tiere, Landschaft, Bewegung im Raum, aber immer im Verhältnis zum Menschen. Programmatisch hierfür kann ein Titel aus dem letzten Programm gelten: „Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens“ des russischen Autors Wassili Golowanow. Dieses monumentale Buch verbindet Naturbeschreibung, Reportage, Autobiografie und Roman in unvergleichlicher Weise. Von unserer Haltung her beschrieben: wir versuchen möglichst nicht Klischees zu bedienen, sondern mit unserem Programm immer auch neue Fragen zu stellen. Der wachsenden Komplexität des geistigen Diskurses in den letzten Jahren entsprechend, wurde auch unser Programm vielschichtiger. Wir können uns nicht mehr auf Rationalismuskritik beschränken wie in den siebziger und achtziger Jahren, als auch der Mainstream noch eindimensional war.

… ein Verlag als Facettenauge, dass auf die moderne Wirklichkeit gerichtet ist?

Andreas Rötzer: Wir wollen entgrenzen und Räume öffnen und so die Leser zum Nachdenken bringen. Autoren wie Jean Baudrillard oder Byung-Chul Han stehen dafür und auch dafür, dass man mit klugen Büchern auch ein großes Publikum erreichen kann.

Innovative Programmarbeit ist das eine, innovative Marketing- und Vertriebsarbeit das andere. Wo sind Sie dabei, wovon lassen Sie die Finger?

Andreas Rötzer: (lacht) Wo bin ich dabei? Wir betreiben natürlich Social Media-Aktivitäten, die werden wir auch verstärken; gleichzeitig machen wir klassische Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, und wo es für unsere Autoren angemessen ist, schalten wir Anzeigen.

Anspruchsvolle unabhängige Verlage sind traditionell Lieblingskinder des meinungsbildenden Feuilletons. Viele Verlage werden durch diese Förderung erfolgreich oder verdanken ihr ihr Überleben. Ist das Feuilleton nach wie vor ein verlässlicher Partner?

Andreas Rötzer: Verlässlich vielleicht nicht, es gibt immer Wellenbewegungen. Interesse erweckt man letztlich mit den Büchern, die man macht, nicht damit, dass man klein und fein ist. Und in diesem Sinn hoffe ich, dass man sich aufs Feuilleton verlassen kann.

Ihr neuestes Projekt, die Reihe – oder ist es ein Imprint? – „Naturkunden“ will erneut Grenzen überschreiten – diesmal auch in herstellerischer Hinsicht?

Andreas Rötzer: Die „Naturkunden“ sind eine herausgehobene und sehr eigenständige Reihe und, obwohl ganz anders, am ehesten vergleichbar mit der Anderen Bibliothek. Produziert und vermarktet wird sie von den gleichen Menschen, die auch das Matthes & Seitz Programm machen. Bei Gestaltung und Herstellung greifen wir allerdings auf neue Ressourcen zurück.

Andreas Rötzer und Judith Schalansky
zur „Naturkunden“-Premiere auf dem
dicht umlagerten Messestand in Leipzig

Sie haben Judith Schalansky dafür gewonnen, deren preisgekrönter „Atlas der abgelegenen Inseln“ als bibliophiles Kleinod im deutschen Sprachraum für 32 Euro an die 40.000 mal verkauft wurde. Warum ist sie bei Ihnen?

Andreas Rötzer: Wir lernten uns auf der Buchmesse in Taipeh kennen. Die verbindenden Gespräche zwischen uns waren die über die Natur, und uns war schnell klar, dass wir was gemeinsam machen würden. Judith Schalansky begreift die Gestaltung als Autorschaft und Herausgeberschaft. Jedes Buch ist von ihr geformt und gestaltet. Gestaltung ist hier aber nicht zu verstehen als „Design“, das einer Reihenidee übergestülpt wird, sondern bei Judith Schalansky wächst die Gestaltung immer aus dem Inhalt heraus. Es gibt daher kein einheitliches Reihenformat, lediglich wiederkehrende Elemente wie den Rückgriff auf historische Buchformate. Dabei ist nichts künstlich, jedes Detail ist aus dem Buch heraus notwendig. Wir gehen zurück zu der Frage: Woraus besteht ein Buch, und welche Funktion haben die einzelnen Teile? Ein Kopfschnitt, der den Staub abweisen soll, das Vorsatz, das Lesebändchen usw. Diesen Teilen wieder Sinn zu verleihen, die Wahrhaftigkeit des Produkts wieder herzustellen, ist uns ein großes Anliegen.

Daher auch die Disparität der Preise der „Naturkunden“?

Andreas Rötzer: Genau.

Daher auch darf ein Buch über Äpfel 98,- € kosten? Ist das nicht ein ziemliches Wagnis?

Andreas Rötzer: Das Buch mit dem Gesamtwerk des „Apfelpastors“ Korbinian Aigner ist ein absolut nicht substituierbares, konkurrenzloses Buch mit über 800 Darstellungen von Äpfeln und Birnen auf 450 großformatigen Seiten. Diese Bilder sind einzigartig in ihrer wissenschaftlichen Exaktheit, einzigartig in ihren Entstehungsbedingungen und in ihrem künstlerischen Wert, es gibt sie nicht noch einmal. Wir ordnen uns damit in eine große pomologische…

Pomologie ist die Wissenschaft vom Apfel…

Andreas Rötzer: … Tradition ein. Jüngst bekannt wurden die Bilder durch ihre aufsehenerregende Präsentation auf der letzten Documenta. Wir leisten beiden Kontexten – dem pomologischen und dem künstlerischen – Genüge. Es gibt dieses Buch, weil wir begeistert von den Bildern und deren Kontexten sind und weil wir glauben, dass sie wichtig sind.

Haben Sie sich denn am Anfang überlegt, wem Sie das Buch verkaufen? Gibt es eine Marketing-Strategie?

Andreas Rötzer: Unsere Preisgestaltung orientiert sich nicht am Markt, sondern an einer Kalkulation, wir gestalten die Preise nicht hoch oder niedrig, sondern angemessen. Wir wollen nicht das Maximum herausholen, sondern unsere Produktion finanzieren. Bücher wie dieses entstehen aus der Integrität des Programmwillens heraus, nicht aus einer Geschäftsidee.

Und Sie lassen sich dann überraschen, ob es funktioniert – heißt: sich gut verkauft…

Andreas Rötzer: Wir finden es so toll, dass wir gar nicht glauben, dass es nicht funktionieren kann.

Ist das nicht ein klein wenig naiv?

Andreas Rötzer: Jeder von uns ist auf seine Weise markterfahren, wir wissen, worauf wir uns einlassen. Die „Naturkunden“ sehen wir als Feier der Möglichkeiten, die man mit dem Medium Buch heute hat. Dafür muss man sich aus dem sicheren Terrain hervorwagen. Und Begeisterung ist die Energie, die auf unsicherem Terrain am weitesten trägt.

Und – dankt es Ihnen der Handel? Was sind die bisherigen Signale?

Andreas Rötzer: Der erste Test war die Vorschau. Die Vorbestellungen, die die Vertreter jetzt bringen, sind ein weiterer ungeheuer positiver Indikator. Es ist angekommen, dass da etwas Neues entsteht, das schön wird, zu einem Thema, das immer wichtiger wird: der Natur. Gerade in Zeiten ihres Verschwindens muss die Frage nach ihr immer neu gestellt werden.

Woher kommen die Vormerker?

Andreas Rötzer: Im Wesentlichen aus dem unabhängigen Buchhandel. Vereinzelt kaufen auch die Filialisten ein. Aber für den unabhängigen Buchhandel sind die „Naturkunden“ eine große Chance, sich ein Distinktionsmerkmal zu verschaffen, etwas Besonderes anbieten zu können, das es nicht überall gibt, im Sortiment zu haben.

Da kommt das Bild eines „zweiten Buchmarktes“ auf – von kleinen Verlagen, die als Buchmanufakturen hochwertigen und hochpreisigen Spezialbedarf für ein spezifisches Segment des Handels entwickeln. Sehen Sie eine Entwicklung zu diesem zweiten Buchmarkt?

Andreas Rötzer: Wir beliefern natürlich beide Märkte. Aber der Massen-Buchhandel mit seinen industrialisierten Produktions- und Vertriebsformen wird immer mehr ins Internet verschwinden, und der kleine Buchhandel wird sich wieder stabilisieren – wenn auch vielleicht auf kleinerem Niveau. Dafür sind dann Verlage wie Matthes & Seitz Berlin da…

Mit seiner Firma alVoloConsult berät Michael Lemster Verlage, E-Commerce-Unternehmen, Buchhändler und Dienstleister bei Geschäftsentwicklung, Programm, Business- und Datenprozessen. Die Qualitätssicherung von Katalogdaten ist sein Spezialgebiet. Daneben publiziert er in Fach- und Publikumsmedien.

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