Das Sonntagsgespräch Andreas Gessler und Frank Kilcher: Nach 150 Jahren ticken die Uhren im Buchhandel anders – jedenfalls bei „Gessler 1862“

Das ist die Geschichte einer geglückten Metamorphose: Aus der Traditionsbuchhandlung „Gessler“ in Friedrichshafen am Bodensee wurde im 150. Jubiläumsjahr „GESSLER 1862“: Seit Donnerstag tickt die Buchhandlung komplett neu und die Zeiger stehen auf „Modern Urban Style“:

Ein für Friedrichshafener Verhältnisse überraschendes, atmosphärisch äußerst stimmiges Neukonzept, das Geschäftsführer Andreas Gessler (52, u.a. Zeitungs- und Buchverleger „Schwäbische Zeitung“, Verlag Robert Gessler) mit viel Fingerspitzengefühl und vermutlich ebenso hohem Invest umgesetzt hat. Neuer Leiter dieser Lifestyle-Buchhandlung ist (seit Februar 2012 im Hause Gessler) Frank Kilchert (45) – Anlass für unser heutiges Sonntagsgespräch:

Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, als habe das Buch keine Zukunft mehr. Doch Sie strotzen vor Optimismus.

Andreas Gessler (l.) und Frank Kilchert:
die Zeiger stehen auf „Modern Urban Style“

Andreas Gessler: Das Buch, wird bleiben. Man muss es allerdings dem Wandel der Zeit angepasst verkaufen. E-Book und E-Reader sind mir persönlich wert und wichtig, wenn ich z.B. im Flugzeug nach NY sitze, aber abends im Hotel oder daheim genieße ich es, ein Buch in der Hand zu halten, den Duft, die Haptik, die Materialerotik also, und bin damit keineswegs old-fashioned. Wir Zeitungsverleger werden den E-Trend allerdings stärker zu spüren bekommen.

Deshalb haben Sie keine Mühen und Kosten gespart, um Ihre gute, etwas in die Jahre gekommene Buchhandlung Gessler in „GESSLER 1862“ umzuwandeln?

Andreas Gessler: Ja, angesichts der großen Konkurrenz in der Friedrichshafener Buchhandelslandschaft inmitten der Altstadt stand ich vor der Entscheidung, zu schließen, zu vermieten oder, was jetzt geschehen ist, etwas vollkommen Neues zu machen: Eine Lifestyle-Buchhandlung, die kultureller Wohlfühl-Treffpunkt mit ganzwöchigem Bar-Betrieb und einem neuen Typus von Veranstaltungen wird, um die Bedürfnisse und Sinne der Häfler Bevölkerung wie die der Touristen gleichermaßen anzusprechen. Mit dem Ziel Tradition, Qualität, Beratung und modernen Service in besten Einklang zu bringen. Deshalb haben wir auch den neuen, traditionsbewussten Firmennamen „Gessler 1862“ gewählt.

Bar, habe ich das richtig verstanden??

Andreas Gessler: Ja, bei uns kann man tagsüber die Café-Bar von Ferhat Bayraktar genießen und nach Feierabend zum Chill Out bei ihm einen Absacker sowie erlesene Snacks zu sich nehmen. Wer mag, kann wie in einem gemütlichen öffentlichen Wohnzimmer Zeitunglesen, in Bildbänden blättern, Bücher lesen oder ganz einfach einmal nur den Tag in angenehmer Atmosphäre bei trendigen Klängen ausklingen lassen. Wir haben eine Lizenz zur Öffnung des Barbereichs bis ein Uhr nachts.

Was bedeutet das Neukonzept konkret für die Auswahl Ihres Sortiments?

Frank Kilchert: Wir sind ab sofort keine klassische Buchhandlung mehr. Das Sortiment von „Gessler 1862“ besteht mit rund 60 Prozent aus Büchern und zu 40 Prozent aus Lifestyle-Produkten ausgewählt schöner Dinge der Bereiche Delikatessen (allerdings keine Frischeprodukte), Wohnaccessoires sowie Pflegeprodukte für den Mann. Wir wollen dem Trend der schnöden Internetbestellung mit einer erlebnisorientierten, sinnlichen Warenpräsentation und lustvollem Kauf vor Ort Paroli bieten. Das Segment Taschenbuch haben wir zurückgefahren und bieten neben Literatur verstärkt Kunst- und Fotobücher an, Food- und Beveragetitel, Regionalia rund um das Thema Bodensee, darunter natürlich Zeppelin- und andere hochwertige Technikbücher und kooperieren mit Industrie und Institutionen vor Ort, gestalten Themenangebote zu den Messen in Friedrichshafen wie „Interboot“ und „Eurobike“, um zwei der wichtigsten zu nennen.

Aber Veranstaltungen wird es geben?

Frank Kilchert: Ja, selbstverständlich, aber nicht nur mit Lesungen für das Buch. Bei uns wird es Musikabende u. a. zusammen mit einer jungen Jazzband der Zeppelin-Universität geben, bei uns steht ein Klavier, hochwertig inszenierte Kunstabende und Produkt-Promotions sind in Planung. Ganz besonders freuen wir uns jetzt schon auf den Herrenabend am 7. November mit einem Programm aus „Hemingway, Whisky und Zigarren“, um diese genussreiche Tradition wiederzubeleben.

Sie sind Mitglied im Börsenverein. Sind dessen Marketingbemühungen für Sie überhaupt noch hilfreich?

Andreas Gessler (spontan): Ach was, das nützt hier sowieso nichts …

Ihre Philosophie die Welt des Buchhandels betreffend?

Andreas Gessler (jetzt schmunzelnd): Man soll sich nicht kleinreden lassen!


Die Geschichte der „Buchhandlung Gessler“ ist seit 150 Jahren eng verbunden mit der Geschichte der Lokalpresse in Friedrichshafen: seit 1862 werden in der heutigen Friedrichstraße 53 (damals Neustadthaus 112) durch den Buchhändler, Buchdrucker und Verleger August Lincke das Vorgängerblatt der „Schwäbischen Zeitung“, das „Seeblatt“, hergestellt sowie Bücher gedruckt und verkauft. 1880 übernahm der Schweizer Redakteur Robert Gessler die Unternehmensleitung. Seit dieser Zeit trägt das Unternehmen den Namen „Robert Gessler“ und steht in Friedrichshafen für Tradition, Qualität, Beratung und Service. Neben einem sehr starken Taschenbuchbereich lag bisher ein Schwerpunkt des Sortiments auf Kunst und Literatur der Region Bodensee und seiner Umgebung sowie auf Reiseliteratur, Freizeit, Kochen und allgemeines Sachbuch.
Die Fragen stellte Margrit Philipp, Friedrichshafen



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