Thieme Modell sorgt kurz vor Start für Diskussionen – Offener Brief vom AWS Vorsitzenden Heinrich Riethmüller an die Thieme Geschäftsleitung mit der Bitte um Verschiebung des Starts – Offizielle Reaktion aus Stuttgart

Kurz vor dem offiziellen Start am 1. April (die offizielle Pressemitteilung war schon formuliert) sorgt das sogenannte Thieme-Modell (BuchMarkt berichtete exklusiv im Oktober 2001) noch einmal für heftige Diskussionen. Anfang vergangener Woche traf ein Brief des Thieme-Verlages beim Buchhandel ein, in dem alle Bestandteile des Modells noch einmal aufgelistet waren. Trotz der intensiven Gespräche, die Handel und Verlag in den vergangenen Monaten geführt haben, sorgt dieser Brief offensichtlich für Unruhe und Besorgnis. Als Reaktion darauf ist der offene Brief des AWS-Vorsitzenden Heinrich Riethmüller zu verstehen, den wir im folgenden im Original-Wortlaut veröffentlichen.
Ebenfalls dokumentieren wir im Anschluss die Reaktion von Thieme-Geschäftsführer Dr. Wolfgang Knüppe.

Offener Brief an den Thieme-Verlag von Heinrich Riethmüller, Vorsitzender der AWS:

Betr. Neues Konditionenmodell Thieme

Sehr geehrter Herr Knüppe, sehr geehrter Herr Hauff,

nach vielen Gesprächen, die Sie mit einigen AWS-Mitgliedern über Ihr neues Konditionenmodell geführt haben, haben Sie spüren können, dass der Fachbuchhandel Aufgeschlossenheit gezeigt hat für Überlegungen aus Ihrem Haus, wie man mit gemeinsamen Anstrengungen den medizinischen Fachbuchmarkt zum Vorteil aller Marktteilnehmer besser organisieren und erweitern könnte. Wir Buchhändler haben Ihnen aber in allen Gesprächen immer deutlich gemacht, dass Ihre neuen Lieferbedingungen insgesamt nicht zu einer Verschlechterung der Buchhandelskonditionen führen dürften.

Ende März kündigen Sie nun mit Einschreiben Ihren Kunden, die seit Jahren geltenden Lieferbedingungen zum 1. April 2002, und wir müssen fast alle feststellen, dass wir in Zukunft wesentlich schlechter gestellt sind als in der Vergangenheit. Hinzu kommt der Ärger, sozusagen erst in letzter Minute von Ihnen über die konkreten neuen Konditionen unterrichtet worden zu sein. So geht man mit seinen Partnern nicht um!

Lassen Sie mich unsere Kritik zusammenfassen:

1 .Rabatte oder Deckungsbeiträge
In Ihrem Haus spricht man nicht mehr von Rabatten, sondern von Deckungsbeiträgen. Sie ersetzen damit das bisher gut funktionierende, beinahe in allen Branchen etablierte und anerkannte, nachvollziehbare Rabatt-System durch ein neues, willkürliches und kompliziertes Deckungsbeitragssystem. Mit welchen Beiträgen die entstehenden Kosten „gedeckt“ werden, entscheidet der Verlag, der die Kostenstrukturen der einzelnen unterschiedlichen Buchhandlungen gar nicht kennt.
Ihr System geht von der Annahme aus, dass der Buchhändler bisher bei niedrigpreisigen Büchern einen zu geringen Deckungsbeitrag erwirtschaftet hat. Dies wollen Sie durch eine geringfügige Rabattanhebung ausgleichen. Erstens gibt es bei Ihnen kaum Bücher (außer im populären Bereich), die unter 25 Euro liegen, zum anderen lassen Sie unberücksichtigt, dass gerade diese Bücher in der Regel eine wesentlich höhere Umschlagsgeschwindigkeit, hochpreisige Bücher aber in der Regel einen höheren Beratungsaufwand und eine längere Lagerdauer haben. Für die über 25 Euro liegenden Buchpreise räumen Sie eine wesentlich schlechtere Handelsspanne ein als bisher, für einen Bereich, in dem die meisten Ihrer Bücher angesiedelt sind. Dies führt zu einer deutlichen Margenreduzierung.

2. Remissionen
Wir alle wissen, dass Remissionen Geld kosten, und zwar sowohl die Verlage wie auch den Sortimentsbuchhandel. Aber eine Remissionsquote von 3% festschreiben zu wollen, geht an der Realität völlig vorbei. Sie zwingen damit das Sortiment, die Thieme Bücher vorsichtiger einzukaufen, weil das verlegerische Risiko teilweise auf den Buchhandel abgewälzt wird. Sie werden mit Ihren Büchern damit weniger im Buchhandel präsent sein. Und Büchertischbestückungen in die Remissionsquote mit einrechnen zu wollen, setzt dieser praxisfremden Regelung die Krone auf. Ich denke, es gibt intelligentere Lösungen, Remissionen in den Griff zu bekommen, als diese für Sie sehr einfache aber doch rigide Regelung. Hier könnte der key-accounter Ihres Unternehmens eine wichtige Rolle übernehmen.

3. Zahlungskonditionen
Viele Ihrer Handelspartner hatten bisher ein längeres Ziel als 30 Tage, und dies aus gutem Grund: Fachbücher haben eine wesentlich höhere Lagerdauer, ein längeres Ziel hilft den Buchhändlern bei der Finanzierung eines teuren und breiten Lagers. Und eine gute Präsenz Ihrer Titel im stationären Buchhandel ist ja auch in Ihrem Interesse. Eine weitere, bisher von Ihnen erteilte Unterstützung für Buchhändler mit einem breiten Angebot wird ersatzlos gestrichen.

Diese Ihre neuen Konditionen führen insgesamt zu einer spürbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Sortimentsbuchhandels, die für manche Betriebe existenzgefährdend ist. Sie können nicht auf der einen Seite signalisieren, dass Sie mit dem Fachbuchhandel enger zusammen arbeiten möchten, wenn Sie auf der anderen Seite dem Buchhandel die Luft zum Atmen nehmen. Ich möchte Sie dringend im Namen der AWS auffordern, diese Ihre neuen Pläne noch einmal zurückzustellen, die Diskussionen mit Ihren Partnern zu suchen und die Argumente, die von uns vorgetragen werden, zu prüfen. Wenn Sie jetzt Ihr neues System kurzfristig durchboxen, werden Sie fast alle Ihre Partner vor den Kopf stoßen und die letzten Sympathien, die Ihnen noch entgegengebracht werden, verspielen. Wir haben Ihnen die Möglichkeit angeboten, auf der Arbeitstagung der AWS intensiv mit allen Marktteilnehmern zu sprechen und zu diskutieren – warten Sie diese Diskussion bitte noch ab und verschieben Sie den Start Ihres Konditionenmodells!

Ich würde es außerordentlich bedauern, wenn Sie Ihr neues System gegen den Widerstand des Handels durchboxen würden, nachdem er erst ganz kurzfristig von Ihnen über die konkreten Auswirkungen informiert worden ist – ich bin mir sicher, dass Sie damit Ihrem Versuch, den medizinischen Fachbuchmarkt gemeinsam mit Ihren wichtigsten Partnern zu erweitern, einen Bärendienst erwiesen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Riethmüller, AWS Vorsitzender

Hier die Stellungnahme des Thieme-Verlages:

Neue Zusammenarbeit mit dem Buchhandel

Wer innovativ denkt und handelt, muss mit Fragen, manchmal auch zunächst mit Unverständnis oder gar mit Empörung rechnen. Das ist uns bewusst. Doch die Diskussion, die wir über die wirtschaftlichen Einflussgrößen des Buchgeschäftes angestoßen haben, ist längst überfällig.

Seit vielen Jahren denken wir in der Verlagsgruppe intensiv über die Wirtschaftlichkeit des Buchgeschäftes und hier in letzter Zeit insbesondere auch über die Zusammenarbeit mit dem Handel nach. Daraus ist nach und nach ein Konzept entstanden. Seit Oktober 2001 tragen wir Buchhändlern unsere Ideen vor, diskutieren mit ihnen darüber und erläutern die Logik hinter unserem Modell für die künftige Zusammenarbeit mit dem Handel. In den letzten Monaten haben wir mehr als 300 Einzelgespräche mit Buchhändlern und Zwischenbuchhändlern geführt, – primär Buchhändler, für die die Produkte der Verlagsgruppe eine wesentliche Bedeutung haben. Die schriftlichen Informationen, die wir daraufhin versandten, sind nicht mehr und nicht weniger als das Resümee aus diesen Gesprächen. Vielen Buchhändlern sind die Inhalte unseres Modells seit langem bekannt, denen, die sich aktuell öffentlich äußern, teilweise schon seit Monaten. Mit Herrn Riethmüller sprachen wir beispielsweise am 5. Oktober des vergangenen Jahres ausführlich in seiner Funktion als AWS-Vorstand, am 26. November in seiner Funktion als Geschäftsführer der Buchhandlung Osiander.

Warum haben wir uns Gedanken über die Zusammenarbeit mit dem Buchhandel gemacht? Wir sind uns einig: Die gesamtwirtschaftliche Situation der Branche ist sowohl für Verlage als auch für Buchhandlungen schwierig. Viele haben das Gefühl, dass sich etwas ändern muss. Geschrieben, geredet und debattiert wird darüber seit Jahren, aber wo bleiben die Maßnahmen? Wir haben uns gefragt: Wie können wir gemeinsam Umsätze steigern? Wie lassen sich unnötige Kosten ver-meiden? Und wie können wir damit die Ertragslage in Handel und Verlag verbessern? Entstanden ist aus diesen Überlegungen ein Bündel an Maßnahmen. An erster Stelle steht hierbei das Ziel, die Märkte gemeinsam aktiver zu bearbeiten. Wir haben aber auch darüber nachgedacht, wie sich Informations-, Logistik- und Verkaufsprozesse sowie das Konditionengefüge verändern müssen, um langfristig Erfolg zu haben.

Hochpreisige und niedrigpreisige Bücher tragen zu den Deckungsbeiträgen im Handel bei. Es ist weder gerechtfertigt, noch finanzierbar, dass die hochpreisigen Titel bei gleichem Rabatt ein Vielfaches an Deckungsbeiträgen für den Handel bereitstellen müssen als niedrigpreisige Titel.

Diese offensichtliche Verzerrung der Vertriebskosten resultiert aus dem veralten Konditionen-system der Branche, das die Gestehungskosten des Verlages in Zusammenhang mit den Margen des Buchhandels setzt, obwohl kein inhaltlicher Zusammenhang besteht.

Es wird zwar zu Recht argumentiert, dass hochpreisige Titel eine längere Lagerdauer (das bedeutet Zinskosten und „anteilige Regalmiete“) und eine höhere Beratungsintensität (das bedeutet Kapazitätskosten) haben. Aber rechtfertigt das wirklich einen z. B. 50fach höheren Deckungs-beitrag? Oder sollen etwa die hochpreisigen Titel die niedrigpreisigen, für den Handel meist defizitären Titel, im Rahmen der Mischkalkulation subventionieren?

Bei Thieme ist die Preisspanne bei den Produkten besonders breit: Wir haben bei den niedrig-preisigen Titeln den Grundrabatt deutlich angehoben. Beim Verkauf eines 15 Euro-Buches erhalten Buchhändler künftig mindestens 4,80 Euro Handelsspanne. Das entspricht einem Mindest(!)rabatt von 32 Prozent! Dieser liegt bereits über dem Durchschnittsrabatt der Branche von ca. 30 Prozent, – der heute bei Wissenschaftsverlagen übliche Grundrabatt beträgt nur
25 Prozent. Bei 25 Euro gewähren wir 7 Euro, d.h., der Mindest(!)rabatt beträgt hier 28 Prozent.

Bei den besonders hochpreisigen Titeln haben wir die Deckungsbeiträge gegenüber der Ver-gangenheit reduziert. Warum? Wir wollen dem Sortiment auch künftig hochpreisige Titel an-bieten können, deren Marktpreise von den Kunden akzeptiert werden. Das gelingt uns nur, wenn wir in der Verlags-Kalkulation nicht von prozentualen Handelsspannen ausgehen, sondern uns an den für den Verkauf eines Buches anfallenden Kosten orientieren. Deswegen sind wir bei der Berechnung unserer Rabatte zunächst von absoluten Werten (= Deckungsbeiträge) ausgegangen. Diese Denkweise fordern die Barsortimente schon seit vielen Jahren. Natürlich haben wir diese absoluten Werte – wie in der Branche üblich – anschließend in Rabatte umgerechnet.

Fazit: Wir gewährleisten in allen Preissegmenten sehr auskömmliche, an den Kosten des Handels orientierte Konditionen und stellen auch weiterhin ein hochwertiges Angebot zu akzeptierten Marktpreisen zur Verfügung .

Sowohl im niedrig- als auch im hochpreisigen Bereich haben Buchhändler künftig die Möglichkeit, ihre Mindestrabatte deutlich zu steigern. Denn mit unserem neuen Modell honorieren wir die Leistungen und das Engagement von besonders aktiven Buchhändlern. Sie können in allen Ladenpreisgruppen ihre Handelsspanne positiv beeinflussen.

Das von uns angestoßene Modell hat ein übergeordnetes Ziel: Die gesamtwirtschaftliche Situation von Verlagen und Buchhandel zu stärken. Nur wenn uns das gelingt, werden mittelständische Buchhandlungen wie beispielsweise Osiander oder konzernunabhängige Verlage wie Thieme langfristig überleben. Das ist wichtig, um die Produkt- und Ideenvielfalt in unserem Land zu sichern.

Lassen Sie uns über das neue Thieme-Modell sprechen. Suchen Sie den direkten Austausch mit uns und geben Sie neuen Ideen auch wirklich eine Chance!

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