Ingrid Grimm (70)

Ingrid Grimm

Ingrid Grimm wird heute 70 Jahre alt. Ihr Autor Hellmuth Karasek gratuliert der heutigen freien Lektorin, die 30 Jahre angestellt für S. Fischer, Rütten & Loening und C.Bertelsmann tätig war, zum Geburtstag:

„Es gibt einen paradoxen, aber gerade deshalb wahren Satz, der heißt: „Hätte Gott gewollt, dass wir nackt herumlaufen, dann hätte er uns nackt auf die Welt kommen lassen.“ Ich spreche nicht vom verlorenen Paradies und von der Zeit, als Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, sahen, dass sie nackt waren. Und dass sie sich darob schämten. (Hätte Ingrid Grimm sich über diesen Satz von mir geschämt und deshalb aus dem „darob“ ein „deshalb“ gemacht? Ich weiß es nicht!)

Jedenfalls hat Oscar Wildes Satz viel mit der Menschwerdung und der damit verbundenen Wortwerdung nach der Vertreibung aus der Unschuld zu tun. Ich schreibe, also bin ich nackt und bloß und hilflos. Oder, wie es bei Brecht heißt: „Auf die Erde voller kaltem Wind, kommt ihr alle voller Schorf und Grind!“ (Auch diesen Satz, den ich, von unterwegs, aus dem Gedächtnis zitiere, hätte Ingrid Grimm durchgegoogelt und – auf Herz und Nieren geprüft – erst bestehen lassen, wenn er so, korrekt und überprüft, hätte bestehen können.)

Was ich damit sagen will: Meine Sätze kommen nackt und schutzlos und voller Grind auf die Welt. Sie sind nackt und bloß. Und ich schäme mich ihrer (oder für sie). Und möchte gerne stolz auf sie sein. Aber dazu sind sie zu ungeschützt. Und so hat sich aus unserer Beziehung – sie die Lektorin, ich der Autor, die wir seit vier Büchern und jetzt beim fünften zusammenarbeiten – ein Vertrauensverhältnis herausgebildet: mehr als das zwischen Hebamme und neuem, auf die Welt kommenden Baby, weil sie es vorher geburtkontrollieren, begutachten und zulassen kann.

Ingrid Grimm, von der ich froh bin, dass sie Berlinerin, zart, mädchenhaft, gescheit, mitleidig, tatkräftig ist, mit beiden Beinen auf der Erde steht und mit allen Sinnen in der Phantasie fliegt, kennt meine Texte im ungeschütztesten Zustand, in dem ich von ihnen nicht weiß, ob ich mich für sie schämen muss. Oder ob ich stolz auf sie sein darf. Sie hilft mir! Das ist ein einfacher Satz über einen einfachen Sachverhalt. Aber ein entscheidender Schritt! Ich bin nicht so vermessen, zu sagen: für die Menschheit. Aber für mich, als Teil der Menschheit. Das immerhin!

Manchmal, wenn ich sie anrufe oder sie mich zurückruft, fragt sie, ob ich denn allein sei und sprechen könne. Was wie ein Treuebruch aussieht, ist die größte Leistung einer ehrlichen Treue. Ingrid Grimm, meine verehrte, gefürchtete, geliebte Lektorin, mein intimstes Alter Ego (jedenfalls, was das Schreiben, eher: das Publizieren, das Öffentlichwerden betrifft), schützt mich sogar davor, mich vor meinen liebsten Menschen, vor meiner Familie, nackt zu zeigen, schreibend zu entblößen.

Wäre es nur das, wäre es furchtbar. Aber es ist anders: Sie macht mir auch Mut, mich (später) zu outen und zu entblößen, wo sie jetzt mit mir heimlich, verschwörerisch tut. Und dabei, oh Schande, sind wir jetzt beide, also auch sie, meine jungmädchenhafte Lektorin, über 70.“

Kontakt: ingrimm@t-online.de

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