Helmut Kindler

Helmut Kindler

Helmut Kindler ist am Montagabend in Küsnacht bei Zürich gestorben. Ein Nachruf auf eine Verlegerlegende:

Kindler kam am 3. Dezember 1912 in Berlin als Sohn eines Polizeibeamten zur Welt. Im September 1945 gehörte der Antifaschist zu den Mitbegründern des Tagesspiegel. Mit 16 Jahren hatte Kindler das Gymnasium verlassen, um bei Erwin Piscators Theater am Nollendorfplatz zu arbeiten.

Dort lernte er Schriftsteller wie Bertolt Brecht und Alfred Döblin kennen. 1951 gründete er den Kindler-Verlag, der unter anderem durch Kindlers Literaturlexikon und Bestseller von Autoren wie Willy Brandt, Walter Jens, Albert Schweitzer, Eugen Kogon (Der SS-Staat) und Sebastian Haffner (Anmerkungen zu Hitler) bekannt wurde. 1977 verkaufte Helmut Kindler, der auch die „Revue“ und die „Bravo“ herausgab, seinen Verlag an die Holtzbrinck-Gruppe .

Vor drei Jahren erschien der letzte Beitrag über ihn in einer Zeitung, als die „Die Literarische Welt“ über ihn berichtete.

„Ich hatte ja immer Schulden“ hieß der schöne Beitrag über die Verlegerlegende (der übrigens der erste Abonnent von BuchMarkt war) und dessen Name nicht nur mit seinem Buchverlag verknüpft ist, sondern auch mit großen Enzyklopädien, vor allem „Kindlers Literaturlexikon“, aber auch „Psychologie im 20. Jahrhundert“, „Grzimeks Tierleben“ oder dem zehnbändigen Kompendium „Der Mensch“; finanziert hatte Kindler das mit dem Verkauf des von ihm gegründeten Zeitschriftenverlages (u.a. hat er die REVUE und BRAVO erfunden).

Zu seinem 90. Geburtstag schrieb Reinhold Stecher in BuchMarkt 11 / 02 dieses Porträt:

Man kann zum Menschen Helmut Kindler stehen wie man will – auf Grund gemachter Erfahrungen als einer seiner Verlagsleiter sehe ich ihn sehr kritisch: Den Zeitungs- und Büchermacher Helmut Kindler aber kann man nur höchste Achtung und Verehrung entgegenbringen. Ich stehe nicht an festzustellen: Helmut Kindler war einer der weltweit bedeutendsten, ganz sicher jedoch der wagemutigste, weitsichtigste und innovativste deutsche Verleger der Nachkriegszeit.
Der Kindler Verlag steht für viele unvergessliche und unvergängliche Publikationen. Schon das erste – 1947 noch in Berlin erschienene – Buch war ein programmatisches Bekenntnis des jungen Verlegers, der damals noch mit Heinz Ullstein verbunden war: „verboten und verbrannt – Anthologie der unterdrückten deutschen Literatur“, herausgegeben von Richard Drews und Alfred Kantorowicz. Das Programm des Verlags – 1949 von Berlin nach München verlegt – weitete sich, insbesondere durch Autobiographien und Biographien namhafter Köpfe, aber auch durch (Wieder-)Entdeckungen und Erstveröffentlichungen, schnell aus, darunter auch „Der Atom-Staat“ von Robert Jungk, „Mein Leben mit Picasso“ von Francois Gilot, „Kein Platz für wilde Tiere“ von Bernhard Grzimek und Konsaliks „Der Arzt von Stalingrad“. Insbesondere die Romane Heinz G. Konsaliks schlugen alle Auflagenrekorde. Es sei nicht verschwiegen, dass diese Erfolge bei Verlegerkollegen Neid erregten und Helmut Kindler von diesen als „Illustriertenverleger“ diffamiert wurde.
Helmut Kindler ließ sich allerdings nie von Kritikern beeindrucken, auch dann nicht, als er sein enzyklopädisches Programm entwickelte und allen Bedenkenträgern zum Trotz in Angriff nahm. „Kindlers Malerei-Lexikon“, „Kindlers Literatur-Lexikon“ und „Grzimeks Tierleben“ erschienen zwischen 1964 und 1972. Man muss sich diesen Parforceritt vor Augen führen: Insgesamt erschienen in 84 Monaten 27 voluminöse
Bände. Zudem: Allein „Kindlers Malerei-Lexikon“ enthält 1.200 farbige und 3.000 Schwarzweiß-Abbildungen. Kindler hatte 1965 die REVUE und die BRAVO, also seinen Zeitschriftenverlag, verkauft; den sicheren „Financier des enzyklopädischen Programms“ gab es also nicht mehr. Kein Wunder, dass der Buchverlag unter dem gewaltigen Gestaltungs- und Veröffentlichungsdruck in den Grundfesten wankte.
Doch: Helmut Kindler war ein risikofreudiger Mensch. Seine Frau Nina, mit der er nicht nur das Zuhause, sondern auch das Büro mit einem gemeinsamen Schreibtisch teilte, drückte es liebevoll so aus: „Du bist ein Roulettespieler.“ Aber in dem gemeinsamen Büro und an dem gemeinsamen Schreibtisch spielten sich nicht ausschließlich harmonische Gespräche ab. Speziell des Piscator-Schülers überlegt gesteuerte „mittleren Ausbrüche“, die nicht selten eskalierten – und manchmal bis zur theatralischen Vorspiegelung eines nahenden Herzinfarktes führten – bewirkten immer wieder Dissonanzen und auch Trennungen. Vor allem in der REVUE wechselten die Chefredakteure von Heute auf Morgen: In 18 Jahren soll Helmut Kindler nicht weniger als 13 verbraucht haben – einige davon durften sogar wiederkehren und den Hinauswurf kurz danach ein zweites Mal erleben. Um die kurzen Beschäftigungsverhältnisse etwas zu kaschieren, wurde von den Mitarbeitern eine neue Zeiteinheit erfunden: Die „Kindler“. Sie umfasste sechs Monate. Wer mehr als drei „Kindler“ überstand galt schon als Langzeitbeschäftigter.
Doch was zählen solche Internas angesichts der großen, gewaltigen Verlegerleistung, die dieser Mann und seine Frau vollbracht haben? Ich denke, sie sollten nicht vergessen sein, aber sie sollten nicht mit auf die Verdienst-Waage gelegt werden. Und deshalb möchte ich meine Würdigung dieses großen Verlegers auch mit einer positiven persönlichen Erfahrung untermauern.
Zum Erscheinen des ersten Bandes von „Grzimeks Tierleben“ hatte ich als damaliger Verlagsleiter gemeinsam mit der Werbe- und Vertriebsabteilung eine Werbeaussendung entwickelt, die über 500.000mal gestreut werden sollte. Das Package bestand aus Kuvert, Werbebrief, einem beidseitig vierfarbigen Prospektblatt, einer Antwortkarte und einem Prämiengutschein, mit dem der erste Band zu einem Vorzugspreis „zur unverbindlichen Ansicht“ angefordert werden konnte. Die Interessenten erhielten als Zugabe außerdem ein von uns entwickeltes Tier-Würfelspiel. Die Schlagzeile des Prospektblattes lautete: „Grzimeks Tierleben macht Ihren Bücherschrank zum größten Zoo der Welt“. Das gesamte Package war sehr publikumswirksam – man könnte auch sagen: marktschreierisch – aufgemacht; alles war auf die Popularität von Bernhard Grzimek zugeschnitten. Ich hatte von Anfang an befürchtet, dass Professor Grzimek, vor allem aber der illustre wissenschaftliche Beirat, von der reißerischen Gestaltung nicht gerade angetan sein würde. Deshalb hatte ich untersagt, dem Herausgeber das Mailorder-Package zur Kenntnis zu bringen. Doch es wurde ihm zugespielt. Knapp eine Woche vor dem Aussendungstermin erhielt ich eines Abends einen Anruf von Professor Grzimek, der kategorisch erklärte, entweder würde die Aussendung nicht erfolgen, oder er und der gesamte Beirat würden sich öffentlich von der Enzyklopädie distanzieren und zudem umgehend ihre Mitarbeit einstellen. Das war natürlich ein Schock in der Abendstunde. Glücklicherweise erreichte ich Helmut Kindler in Zürich. Der beruhigte mich: Er stehe hinter der Aussendung und mir und würde dies auch Professor Grzimek klarmachen.
Er hat es wirklich getan. Weder der Herausgeber noch der Beirat traten zurück, die Werbesendung ging unverändert heraus und „Grzimeks Tierleben“ trat seinen Siegeszug an.
Noch heute bin ich mir sicher, dass sich kein anderer Verleger in einer solch prekären Situation mit solch glasharter und beinharter Entschiedenheit hinter seinen Verlagsleiter gestellt hätte.
Deshalb, lieber Herr Kindler, zu Ihrem 90. Geburtstag nicht nur herzliche Glückwünsche, sondern auch ein aufrichtiges Danke!
Ihr Reinhold Stecher

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