Das Sonntagsgespräch Michael Jürgs: Die Geschichte der Einheit – wie sie „unten“ erlebt worden ist

Michael Jürgs war u.a. Chefredakteur von Stern und Tempo. Seine Bücher, darunter die Bestseller „Der Fall Romy Schneider“, „Der Fall Axel Springer“, „Bürger Grass“, „Alzheimer Eine Spurensuche im Niemandsland“, „Der Tag danach“, „Eine berührbare Frau: das atemlose Leben der Künstlerin Eva Hesse“ und, zusammen mit der Leipzigerin Angela Elis, das fröhliche Pamphlet „Typisch Ossi, typisch Wessi“ sind in viele Sprachen übersetzt und zum Teil auch verfilmt worden. Sein neues Buch „ Wie geht’ s ,Deutschland.. Eine Bilanz der Einheit“ erscheint am 19. September bei. C. Bertelsmann.

BECKMANN: Im soeben veröffentlichten fünften Band von Hans-Ulrich Wehlers monumentalem Werk Deutsche Gesellschaftsgeschichte kommt die DDR nur als historisch unbedeutende Episode vor, als „sowjetische Satrapie“ – als ob dort keine Menschen und Bürger mit eigenen Hoffnungen und Erwartungen gelebt hätten. Ist das nun die spezielle Sicht eines Bielefelder Historikers, oder ist sie irgendwie symptomatisch für eine generelle westdeutsche Einstellung? Hat sich solche Einstellung auch nach der Vereinigung von 1990 im Umgang mit den neuen Bundesländern niedergeschlagen?

JÜRGS: Zunächst zu Wehler allgemein. Ich schätze seine Bücher, halte ihn, nach dem – zu frühen Tod von Nipperdey – für einen der wichtigsten, wesentlichsten und nicht zuletzt lesbarsten deutschen Historiker. Seine Meinung, was die Bedeutung der DDR für die deutsche Geschichte betrifft, teile ich allerdings nicht. Wobei ich mich nur auf das beziehen kann, was ich in den Kritiken gelesen habe, sein Werk insgesamt also noch nicht gelesen habe. Eines der Probleme im Umgang der Westdeutschen mit den Ostdeutschen ist sicher, dass – was viele Ossis immer wieder beklagen – wir uns eigentlich nicht für ihre Biografien interessiert haben. Auch drüben gab es ein ganz normales Leben, gab es die Jahreszeiten und an Weihnachten mitunter einen schiefen Tannenbaum, gab es Leben und Kinder und Alltag.

BECKMANN: Nun treten einzelne Menschen bei Wehler, der 1990 aufhört, ja ohnehin nicht auf. Er handelt die Gesellschaft in und nach Thesen ab. Von welchen Thesen sind Sie ausgegangen bei Ihrer „Bilanz der Einheit“ – Ihr neues Buch, das am 19. September bei C. Bertelsmann erscheint?

JÜRGS: Ein Reporter, ein Journalist, ist gut beraten, falls er sich auf die Reise begibt, um Neues zu finden, nicht von Thesen auszugehen, sondern sich von der Wirklichkeit überraschen und berühren zu lassen und aufzuschreiben, was er erlebt und gesehen hat und was ihm erzählt wurde. Mir schien es wichtig zu sein, und das ganz bewusst ein Jahr vor dem Jubiläum des Mauerfalls, vor Ort zu erkunden, wie es aussieht in Deutschland, also wie es Deutschland tatsächlich geht jenseits von veröffentlichten Umfragen, Statistiken, Leitartikeln. Deshalb ist meine „Bilanz der Einheit“ nicht DIE Bilanz der Einheit,. sondern eine subjektive und sicher nicht die letztgültige.

BECKMANN: Das erinnert, von der Methode her, irgendwie an Wolfgang Büschers großartige Wanderung und spannende Reportage. Nun sind Sie ja aber wohl nicht zu Fuß durch die Ex-DDR marschiert, sondern mit dem Auto gefahren. Und das haben, wenngleich in kleinerem Rahmen, inzwischen viele Westdeutsche gemacht – da müssten die Veränderungen und heutigen Verhältnisse in der Ex-DDR inzwischen doch auch Westdeutschen bekannt sein. Zumal den Medien.

JÜRGS: Sie haben recht. Eigentlich kann das, was ich – übrigens stets per Bahn und mit dem Auto – in den neuen Bundesländern erfahren habe, inzwischen jeder erfahren haben. Die Möglichkeiten sind ja unbegrenzt, seit die Grenzen gefallen sind. Jenseits der Leuchttürme Weimar, Dresden, Leipzig, Jena etc und der wunderbaren Ostseeküste aber gibt es viele Landschaften und Orte, die nicht erfahren worden sind. Auch nicht von Journalisten. Diese Orte haben mich interessiert.

BECKMANN: Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, dass zumindest Ihr berufliches Leben in hohem Maße mit der DDR und der „Wende“ zu tun gehabt haben. Geht darauf nicht sogar zurück, dass Sie vom Journalisten zum Buchschriftsteller mutiert sind?

JÜRGS: In der Tat hat der Umbruch 1989, der Mauerfall, mein Leben verändert. Im Januar 1990 wurde ich, selbstverständlich im gegenseitigen Einvernehmen, von meinem Job als Stern-Chefredakteur abgelöst. Vier Tage, nachdem ein Leitartikel von mir erschienen ist unter dem bewusst provokanten Titel „Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind!?“ Ob da ein Zusammenhang besteht mit meiner Entlassung? Kann schon sein.

Ich war also gezwungen, quasi über Nacht, mich meiner Wurzeln zu besinnen, also zu klären, was schaffe ich auch ohne den Apparat des Stern. Es lag nahe, wieder da anzusetzen, wo ich einst begonnen hatte – als Reporter. Als Journalist. Menschen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Das habe ich seitdem – unterbrochen von einigen Ausflügen – Chefredakteur von Tempo, Moderator NDR-Talkshow – seit 1990 auch gemacht. Halte mich aber nach wie vor nicht für einen Schriftsteller, sondern für einen Journalisten. Im übrigen ein höchst ehrenwerter Beruf.

BECKMANN: Wie geht’s, Deutschland? ist nun schon Ihr viertes Buch, das sich mit der Geschichte der neuen Bundesländer befass. Sind die vorausgegangenen Titel so erfolgreich gewesen, dass Sie dieses Thema deshalb noch einmal aufgegriffen haben? Oder geschah es, weil Sie mit diesen Büchern so viel bewirkt haben? Wie ist denn das Echo gewesen – auch in der Politik?

JÜRGS: Ob ich etwas bewirkt habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich war stolz, dass bei Lesungen aus meinem Buch über die Treuhand in der ehemaligen DDR nicht nur die Säle voll waren, sondern auch von den jeweiligen Gastgebern eingeführt wurde mit Worten wie… dass ich das eigentliche Geschichtsbuch für die Deutschen Ost geschrieben hätte.

Ausgerechnet ich, siehe den Titel meines letzten Leitartikels als Stern-Chefredakteur. Das Buch Typisch Ossis, typisch Wessis, das ich mit meiner Kollegin Angela Elis schrieb, war der offenbar geglückte Versuch, sich dem Thema undeutsch heiter zu nähern. Das ging nur, weil auf meine Attacken gegen den Ossi an sich sie genauso fröhlich zurückgeschlagen hat. Es war, das stimmt, ein großer Erfolg. Und wie es mit dem neuen Buch laufen wird? Wir werden sehen-

BECKMANN: Ist man Ihnen, einem westdeutschen Autor, der über sie und ihre Belange schreibt, in den neuen Bundesländern nicht mit einigem Misstrauen begegnet?

JÜRGS: Bei Lesungen aus Typisch Ossi, typisch Wessi im Osten wurde ich misstrauisch beäugt und wegen meiner Gemeinheiten entsprechend attackiert. Am Ende aber lachten alle, weil Angela Elis bejubelt wurde. Wir haben das natürlich gespielt. Im Westen wiederum war es umgekehrt, aber aggressiv war es nie. Andererseits habe ich immer dann im Osten gewonnen, auch bei den Kritischen, sobald sie merkten, dass ich nicht Vorurteile verbreitete, sondern dass meine Urteile auf Recherchen beruhten, ich mich also in der Tat für ihre Biografien und die Zustände vor dem Umbruch interessiert habe.

BECKMANN: Sind die Einheit und ihre Folgen überhaupt noch etwas, das die Öffentlichkeit interessiert? Sie sind zwar- einem Urteil der Süddeutschen Zeitung zufolge – „der beste deutsche Sachbuch-Autor unserer Zeit“, aber bei Sachbüchern hängt das Interesse der Leser bekanntlich stark vom jeweiligen Thema ab. Entscheidend dafür ist auch, wie die Medien reagieren. Und wer das neue Buch in welchem Rahmen vorstellt. Wie sieht es da mit dem ersten Echo aus für Ihr Wie geht’s, Deutschland?

JÜRGS: Das Urteil der Süddeutschen, um auch das zurecht zu rücken, lautet…“der vielleicht“ – Betonung bitte auf vielleicht – beste und vielseitigste deutsche Sachbuchautor“. Vielseitig stimmt, weil ich, bestückt mit einer für meinen Beruf notwendigen gesunden Halbbildung, immer neugierig war und bin auf die andere Hälfte, von der ich keine Ahnung habe, und je öfter die Neugier auf Gebiete stößt, die mir unbekannt waren – Alzheimer, Weihnachtsfrieden Erster Weltkrieg – ,vertraute und vertraue ich meinem Instinkt. Ich habe inzwischen gelernt, dem mehr zu vertrauen als dem sogenannten Medienecho – wobei es gelogen wäre, würde ich behaupten, dass mich Verrisse freudig stimmen.

BECKMANN: Haben Sie bei Ihren Recherchen zu diesem Buch auch so etwas wie eine sensationelle Entdeckung gemacht?

JÜRGS: Ja. Ich habe den echten Schießbefehl gefunden, von dem alle – vor allem Krenz und Co – behaupten, es habe ihn nie gegeben.

BECKMANN: Sie haben einmal gesagt: “Ein Journalist, der aufschreibt, was er sieht und wonach es riecht und wie es schmeckt, hat ein anderes Bild vom geeinten Deutschland als der Zeitgeschichtler, der sein Bild aus Akten komponiert.“ Welche Bilanz können Sie – als solch ein Journalist – nun aus der Einheit ziehen?

JÜRGS: Deutschland ist nicht mehr strikt geteilt in Ost und West. Das gilt so noch wohl eher für die Generation der Alten. Die nächste Generation weiß zwar, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen kommt, aber das interessiert sie nicht mehr so brennend. Und die dann kommende, die junge Generation, ist daran interessiert,. wo sie am besten leben und arbeiten können, egal nun, ob Ost oder West.

In der Geschichte der Einheit gab es viele berührende Momente, die der Erinnerung aller wert sind. Es ist manches schiefgelaufen, aber das zu beurteilen ist nicht schwer. Post festum weiß jeder alles besser. Wahrscheinlich sogar Helmut Kohl, der einst blühende Landschaften in kürzester Frist versprach. Die gibt es nun, wie man weiß, noch lange nicht überall, aber das gilt inzwischen auch für den Westen. Die eigentliche Trennung dürfte eher die zwischen oben und unten sein, wobei die Rezepte der – nasch meiner Einschätzung in Wahrheit nicht fortschrittlichen, sondern eher reaktionären – Linken nicht die richtigen sind. Vor Ort drüben geht es allen, egal zu welcher Partei sie gehören, um Verbesserung der Lebensverhältnisse hier und jetzt und heute. Und da gibt es noch verdammt viel zu tun.

BECKMANN: Halten wir uns einmal an die alte Unterscheidung, dass es gute und dass es schlechte Geschichten gibt – ist die Geschichte der deutschen Einheit, die Sie in Ihrem neuen Buch erzählen, nun eine gute Geschichte oder ist sie eine schlechte Geschichte?

JÜRGS: Weiß ich nicht. Es ist eine gute UND eine schlechte Geschichte. Insofern eine Geschichte aus dem wahren Leben. Deshalb erzählt am Beispiel vieler Menschen, Ost wie West, und nicht von oben herab, sondern unten erlebt.

Zum letzten Sonntagsgespräch mit Norbert Schaepe: Warum Vertreter unersetzbar sind und wie sich ihre Arbeit auf neue Weise finanzierbar gestalten lässt [mehr…]

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert