Gerhard Beckmann und Georg Kessler über ein ganz spezielles Segment des Buchmarkts

Georg Kessler

Georg Kessler, Jahrgang 1957, war dem Studium der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft und einem Volontariat bei Kosmos Redakteur bei Falken und leitete das Ressort für die Entwicklung von Sachbuchprogrammen bei Das Beste, bevor er Verlagsleiter bei Augustus (Weltbild) und Kosmos und wurde. Bis 2002 ist er Geschäftsführer der Ratgebergruppe Mosaik-Falken-Bassermann-Orbis (bei Random House gewesen, seither Geschäftsführer Programm und Sprecher der Geschäftsführung bei Gräfe & Unzer in München.

BECKMANN: Der Ratgeber, diese moderne Art von Buch, die Lesern neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Fortschritte unter dem Gesichtspunkt ihrer Anwendung und Nützlichkeit für eine bessere Existenzbewältigung anbieten – als Ratgeber eben und Lebenshilfe – entstand im Zeitalter der Aufklärung. Ein typisches Beispiel war das Not- und Hilfsbüchlein für Bauersleute (1787) des Pädagogen Rudolf Zacharias Becker, der das Ziel hatte, „den vornehmsten leiblichen und geistigen Nöten des Landmannes zuhelfen“. Es war ein 800seitiger „Universalratgeber, mit dessen Themenspektrum man heute ein ganzes Verlagsprogramm gestalten könnte (Joachim Güntner in der Neuen Zürcher Zeitung) und der größte Verkaufserfolg des berühmten Leipziger Verlegers Göschen. Bis ins späte 20. Jahrhundert hat die zunehmende Menge der Ratgeberliteratur ihren Weg nicht über den klassischen Buchhandel zu den Menschen gefunden. Sie lief vorwiegend über den Kolportage- und Reisehandel, über Warenhäuser, Buchgemeinschaften und die sogenannten Nebenmärkte.
Wieso ließ der traditionelle Buchhandel es so lange an einer wirklich positiven Einstellung und am Engagement für Ratgeber fehlen?

KESSLER: Zum einen ist der Ratgeber als Buchgattung erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu wirklicher wirtschaftlicher Bedeutung gekommen – zu einer Zeit, als nach dem Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau die Freizeit und die Freizeitgestaltung einen immer größeren Stellenwert bekamen.

Zum anderen, und das erscheint mir letztlich wesentlicher, lässt sich das literatursoziologisch und -historisch begründen. Da sind viele Faktoren ausschlaggebend, etwa das Feuilleton, das nicht nach „Profanliteratur“ dürstet und dessen Bildungsvertreter ja habitualisierte Formen der Kulturvermittlung bevorzugen und auf die klassische Gattungspoetik getrimmt sind, von der belletristischen „Höhenkammliteratur“ bis zum ambitionierten Sachbuch und anspruchsvollen Kinderbuch. Ihre selektive ästhetische oder politische Wahrnehmung blendete nutzenorientierte Alltagsliteratur systematisch aus.

BECKMANN: Waren Feuilletons, Repräsentanten der Bildung und Pädagogen wirklich so einflussreich?
KESSLER: In der öffentlichen Wahrnehmung spielten sie eine entscheidende Rolle, was dann auch in der Einstellung des Buchhandels zum Ausdruck kommen mag.

BECKMANN: Dennoch ist der Absatz von Ratgebern stetig gewachsen. Von den späten 1980er Jahren bis 1998 stieg er um das Doppelte, auf zwanzig Prozent des Volumens der Branche. Heute ist er mit 16% die zweitstärkste Warengruppe, nach der Belletristik, vor dem Kinder- und Sachbuch Wie war das möglich?
KESSLER: Der starke Anstieg ist vor allem auf die Wiedervereinigung zurückzuführen, die Anfang der 90er Jahre die Nachfrage nach Ratgebern deutlich angekurbelt hat.

BECKMANN: Eine wie große Rolle spielt – im Vergleich zu Buchgemeinschaften, Warenhäusern, Online-Händlern und Nebenmärkten – heute der stationäre Buchhandel im Verkauf von Ratgebern?
KESSLER: Er ist mit großem Abstand der wichtigste Vertriebskanal. Daran wird sich auch mittelfristig nichts ändern, trotz der beachtlichen Wachstumsraten von Amazon & Co.

BECKMANN: Sehen Sie im Verkauf von Ratgebern noch Wachstumspotentiale für Buchhandlungen?
KESSLER: Eindeutig ja. Die neue Warengruppensystematik von Media Control bildet ja zum ersten Mal die tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung des Ratgebers in der privaten deutschen Buchnachfrage ab. Und diese Nachfrage spiegelt sich – etwa in Relation zum Sachbuch – bei weitem noch nicht über alle Buchhandlungen hinweg in deren Präsenzbestückung und Flächenpräsentation wider.

BECKMANN: Was tun die Ratgeberverleger, um Buchhandlungen in der Realisierung solcher Wachstumspotentiale zu unterstützen?
KESSLER: Einmal bieten wir vermehrt maßgeschneiderte Konzepte für die POS-Inszenierung an, in Abhängigkeit von den Themen- und saisonalen Schwerpunkten unserer Programmauftritte. Dann spielen unsere Handelsvertreter eine wichtige Rolle, die ja immer stärker in die Rolle des Kundenmanagers wachsen und ihre Beratungskompetenz für einen optimierten Einkauf und eine nachfrageorientierte Warenbewirtschaftung in die Waagschale werfen können.

BECKMANN: Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der vom Börsenverein eingeführten neuen Warengruppensystematik, die „Ratgeber“ nicht länger als integrierte Untergruppe des „Sachbuches“ führt? Auf solche Emanzipation des Ratgebers in einer eigenen Warengruppe haben meines Wissens Sie persönlich ja stark hingewirkt…
KESSLER: Die Trennung war längst überfällig. Aus unserer Sicht kann die Warengruppensystematik gar nicht genug gewürdigt werden, liefert sie doch, wie oben erwähnt, endlich die wirtschaftliche Transparenz, die wir seit Jahren eingefordert haben.

BECKMANN: Wodurch wurde sie möglich?
KESSLER: Voraussetzung dafür war die saubere definitorische Trennung vom Sachbuch, die dann eine korrekte Zuschlüsselung der Titel ermöglicht hat. Ratgeber sind per definitionem „handlungs- oder nutzenorientierte Bücher für den privaten Bereich“, während Sachbücher „wissensorientiert mit primär privatem Nutzwert“ sind.

Man kann den Unterschied auch noch einfacher und pointierter fassen, ganz im Sinne von Kurt Prelinger, der Sachbücher als „Bücher über“ und Ratgeber als „Bücher zu“ einem Thema bezeichnet hat.

Die hierauf fußende Zuschlüsselung hat dann Ende 2007 die neuen Kräfteverhältnisse im Genreverbund Belletristik-Ratgeber-Sachbuch- KiJuBu etc. zu Tage gefördert.

BECKMANN: Wie ist diese Neuerung – sie wurde ja erst im vergangenen Herbst eingeführt – vom Buchhandel aufgenommen worden?
KESSLER: Sehr gut, nach allem, was wir wissen aus Kundengesprächen und von unseren Vertretern: ein Erfolg auf der ganzen Linie.

BECKMANN: Mit solcher Veränderung in der Warengruppensystematik sind eben auch eigene Ratgeber-Bestsellerlisten möglich geworden. Sie ins Leben zu rufen, war Ihnen und Ihren Kollegen ebenfalls sehr wichtig. Warum eigentlich?
KESSLER: Die Bestsellerliste ist ein hervorragendes Marketing-Instrument, um

a) Aufmerksamkeit für den Ratgeber zu erzielen, ihm damit gewissermaßen eine Bühne in der öffentlichen Wahrnehmung zu schaffen und

b) die Nachfrage über absatzstarke Novitäten anzukurbeln, die sich dann auch positiv auf die Backlist auswirkt.

Wir sind ja, im Unterschied zu Belletristikverlagen, deren Mechanik nach dem Hardcover-Taschenbuch-Prinzip funktioniert, nicht per se frontlistgetrieben. Ganz im Gegenteil: unser verlegerisches Prinzip ist die Bewirtschaftung einer ertragsstarken Backlist.

Sie erhält durch die Bestsellerliste nun eine kräftige Vitaminspritze erhält. Wofür wir nun sorgen müssen, ist die Etablierung von Themen-Bestsellerlisten, die noch direkter auf die Backlist einzahlen.

BECKMANN: Ging es Ihnen da wirklich nicht hauptsächlich um eine, sozusagen, kosmetische Operation? Darum, die Ratgeber endlich ganz klar aus der Ecke als „Schmuddelkinder“ des Verlagswesens herauszuholen und ins helle Licht zu rücken? Haben die Ratgeber-Listen seit vergangenem Herbst praktisch etwas bewirkt? Im Buchhandel? Gibt es Erkenntnisse, dass vom Publikum als Orientierungshilfe genutzt werden?
KESSLER: Wir sammeln Erfahrungen, und die ersten Reaktionen, das hat ja auch die Schnellumfrage des Börsenblatts gezeigt, sind sehr positiv. Um die Wirkung der Bestsellerliste zu erhöhen, auch am POS, sind nun gezielte weitere Maßnahmen erforderlich. Ein erster Schritt ist das Plakat, das seit einigen Wochen dem Börsenblatt beigelegt wird und das natürlich als Orientierungshilfe für den Buchhändler und das Publikum dienen soll. Das müssen wir aber noch besser hinkriegen, und daran arbeiten wir.

BECKMANN: Die Soziologin Karin Knorr-Cetina hat dargelegt, wie der Übergang von der Industrie- zur heutigen Wissensgesellschaft sich vor allem darin manifestiert, dass professionelles Wissen nicht länger ein Monopol der Experten und Gebildeten ist. Dafür sieht Joachim Güntner im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung“ gerade im Ratgeber ein augenfälliges Beispiel. Ratgeber sind gewissermaßen ein besonderes Medium für den mündigen Bürger, der in praktischen Belangen Aufklärung sucht. Das heißt zum einen: Die Ratgeber tragen eine hohe moralische und gesellschaftliche Verantwortung. Sind sie sich dessen bewusst?
KESSLER: Es ist interessant, dass Sie diesen Aspekt ansprechen. Dieser Tage ist eine wissenschaftliche Publikation erschienen mit dem Titel „Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert“. Darin wird der Ratgeber aus alltagskultureller Perspektive untersucht und als „gelebter Konjunktiv“ apostrophiert. Seine „moralische Wirkungsintention“ wird sogar mit der Foucaultschen Idee der Gouvernementalität in Verbindung gebracht, also das Ratgeben als Zusammenwirken von Fremdführung und Selbstführung.

Natürlich sind wir uns der Verantwortung bewusst. Ich will das nicht künstlich überhöhen, aber es ist doch so: Ein Gesundheits- und Ernährungsratgeber kann unmittelbar ins Leben wirken, indem er Gewohnheiten verändert oder positiv beeinflusst. Ein Lebenshilferatgeber kann im Prozeß der individuellen kulturellen Verortung Orientierung liefern. Insofern sind Ratgeber immer auch so etwas wie Handreichungen in Fragen der Identitätsfindung.

BECKMANN: Ein Grund für den schlechten Ruf dieser Gattung ist gewiss in der häufigen „Abkupferei“ zu suchen. Kaum hat ein neues Thema in einem Verlag Erfolg gehabt, sind oft mit Windeseile, anderswo, manchmal sogar im eigenen Haus, „Nachmacher“ auf den Markt geworfen worden, die sich inhaltlich kaum unterschieden. Ein notorisches Beispiel dafür bietet der „Apfelessig“, der in den 1990er Jahren riesig einschlug und schon bald in 14 Titeln abgehandelt wurde. So kam der Verdacht auf, Ratgeber seien leicht machbare Massenware, die aus vornehmlich kommerziellen Motiven mit heißer Nadel gestrickt würde.
KESSLER: Das ist nur vordergründig so. Natürlich kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass zu einem Trendthema schnell-schnell Dutzende von Titeln zum selben Thema auf den Markt geworfen werden. Ich will das gar nicht beschönigen.

Aber: die Frage ist doch immer, mit welcher Qualität und mit welcher inhaltlichen und formalen Kompetenz man auf ein Thema reagiert. Und da trennt sich dann flugs die Spreu vom Weizen. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie ein gleichrangiger Klon daherkommt, fällt bei näherer Betrachtung durch den Rost. Das zahlt sich mittel- und langfristig nie aus. Die Kunden merken das und lassen sich nicht an der Nase herumführen.

Ich kann mich noch erinnern, dass wir in der 1990er Jahren das Phänomen der „Imprintitis“ hatten, auf das Sie hier ja anspielen. Alle großen Verlage gründeten Ratgeber-Imprinte, die schossen wie Pilze aus dem Boden, weil man – mit wenig Aufwand – das große Geschäft vermutete. Aber Qualität ist nicht einfach zu imitieren. Deshalb ging das nur eine Zeit lang gut, dann kam der Einbruch.

Die Imprintitis ist längst von der „Media Controlitis“ abgelöst worden. Jeder Marktteilnehmer kann wöchentlich den Erfolg bzw. Misserfolg eines Themas zahlengestützt nachlesen und dann thematisch reagieren. Eine lästige Begleiterscheinung.

Genauso wie übrigens das unsägliche Kopistentum. Erfolgsmuster in Produkt-Design und Kommunikationsauftritt werden schamlos nachgeahmt bis hin zur Verwechselungsgefahr.

BECKMANN: Hat der bisher weithin mangelnde Respekt vielleicht auch mit den Autoren zu tun? Damit, dass sie eine vergleichsweise geringe künstlerische Gestaltungsfreiheit genießen? Haben sie sich um der Klarheit der Aussage und der einfachen Anwendbarkeit seitens breiter Leserschichten nicht häufig an strenge Vorgaben der Lektorate zu halten? Steht allzu oft nicht die Optik im Vordergrund?
KESSLER: Unsere Wirkungsintention ist ja nicht, Räume für Gestaltungsfreiheit zu eröffnen, unsere Wirkungsintention ist, ein gelingsicheres, benutzerfreundliches und qualitativ einwandfreies Produkt zu schaffen, das Anregungen gibt und dem Kunden bei der Lösung eines Problems hilft. Dazu bedarf es einer hohen inhaltlich-fachlichen Kompetenz auf Seiten der Autoren und Redaktionen, aber auch eines hohen Aufwandes mit Blick auf die Darreichungsform und das graphisch-illustrative Gefäß. Diese Dialektik von Inhalt und Form ist grundlegend für unser Gewerbe, und ich finde, gerade auch wenn man sich wie bei GRÄFE UN UNZER als Markenartikler versteht, da kann man gar nicht genug Aufwand betreiben und muss versuchen, immer besser, also zielgruppengenauer, zu werden. Dieser Aufwand zahlt unmittelbar auf den Wertschöpfungskreislauf ein. Natürlich ist er mit immensen Vorkosten und Investitionen verbunden, die sich unter Umständen erst in der dritten Auflage rechnen. Aber so ist das nun mal: wer den Ratgeber richtig und dauerhaft zu bewirtschaften versucht, muss manchmal das Geld zum Fenster rauswerfen, damit es zur Tür wieder reinkommt.

BECKMANN: Daraus ließe sich schließen, dass die Lektoren in Ratgeberverlagen eine größere Rolle spielen, kreativer sind und die Bücher viel stärker mitgestalten als etwa in den meisten heutigen schöngeistigen Verlagen. Falls dem so ist, meinen Sie, dass ihre Leistung in der Branche wie in der Öffentlichkeit auch nicht hinreichend gewürdigt wird?
KESSLER: So würde ich das nicht formulieren. Die Redakteure – es sind ja keine klassischen Lektoren wie in Belletristik- oder Wissenschaftsverlagen – in Ratgeberverlagen sind nicht „kreativer“ als ihre Kollegen in anderen Verlagen, sie haben nur ein anderes Arbeitsprofil und andere Aufgaben.

BECKMANN: Wäre es für Buchhändler, Medien und Buchkäufer nicht eventuell hilfreich, wenn der Arbeitskreis der Ratgeberverlage beispielsweise eine Broschüre herausbrächten, die Aufklärung darüber bietet, nach welchen Maßgaben, auf welche Weise ein richtiger, guter Ratgeber zustande kommt?
KESSLER: Eine charmante Idee, so einen kleinen Leitfaden à la „Wie ein Ratgeber entsteht“ herauszubringen. Die Anregung nehme ich gerne mit.

Im übrigen wollen wir über den Arbeitskreis Ratgeberverlage erreichen, dass künftig im Zusammenhang mit der Stiftung Buchkunst auch die Gattung Ratgeber berücksichtigt wird.

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert