Beckmann kommtiert Eine tolle Erfolgsstory, eine traurige Geschichte von allgemeiner Bedeutung: Der Nestlé Children’s Book Award wird eingestellt

Der britische Nestlé Children’s Book Award – eine der bekanntesten, etabliertesten und einflussreichsten Ehrungen für Kinderbücher – ist abgeschafft worden. Sein Ende wirft grundsätzliche Fragen zu Literaturpreisen auf.

1. Eine beispielhaft innovative Preisidee

Der Award, der an Autoren jährlich in drei Kategorien – für 5- bis 6-Jährige, 6- bis 8-Jährige und 9- bis 11-jährige – für das beste Kinderbuch verliehen worden ist, wurde 1984 von der literarischen Wohltätigkeitsorganisation Bookstart in London begründet, mit dem vierfachen Ziel: einer Literaturgattung, der kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ins öffentliche Bewusstsein zu heben; ihren Autoren, die allgemein wenig geachtet waren, durch Ehrung ihrer besten Werke endlich zu gebührender Achtung und Beachtung zu verhelfen; Kinder zum Lesen von Büchern anzuregen und das (insgesamt niedrige) Niveau ihrer schulischen Bildung zu steigern; sowie künftig einer höheren Lesekultur der Bevölkerung den Weg zu bahnen. Dieses Vorhaben hat Booktrust in erstaunlichem Maße zu realisieren vermocht.

2. Eine überfällige Aufwertung der Kinderbuchliteratur

Der Preis hat einer Reihe von britischen Kinderbuch-Autoren und -Illustratoren zum Durchbruch verholfen, darunter Quentin Blake, Lauren Child, Anne Fine, Michael Morpurgo, Michael Rosen und Jacqueline Wilson und Chris Riddell. Seine größten Auswirkungen sind mit dem Namen J.K. Rowling verbunden. Sie wurde, 1997, ganz früh und völlig unbekannt, bereits für den ersten Roman ihrer Harry Potter Serie – erschienen in einer Erstauflage von nur 500 Exemplaren – mit dem Nestlé Children’s Book Award ausgezeichnet, und in den darauffolgenden zwei Jahren nochmals.

Und es ist verschiedentlich zurecht in Frage gestellt worden, ob J.K. Rowling und Harry Potter ohne diesen Preis zu ihrem Siegeszug durch die ganze Welt imstande gewesen wären. Es muss hinzugefügt werden: Erst mit diesem Preis begann das moderne Kinderbuch in den Massenmedien überhaupt wirklich wahrgenommen zu werden; auch Harry Potter hat – trotz allem genialen, konsequenten Marketing, wie es in der Verlagsbranche bis dahin einmalig war – nur dank solcher Medienbeachtung zu dem Phänomen werden können, das er nun ist.

3. Das Erfolgsgeheimnis: Kinder als Juroren von Kinderbuchliteratur

Das war freilich auch nur dank der innovativen Vorgehensweise von Booktrust bei diesem Preis möglich. Booktrust hat die Preisentscheidungen eben nicht, wie üblich, nicht von Erwachsenen treffen lassen; nicht von einer Jury aus Autoren, Buchhändlern, Kritikern, Pädagogen, Psychologen, Bildungs-, Kultur-, Moral- und Sozialexperten, sondern von Kindern selbst; und dies wiederum nicht von einer kleinen repräsentativen Gruppe, wie sie unvermeidlich nach Kriterien eben solcher Erwachsenen selektiert worden wäre.

Das Votum kam vielmehr durch eine Auszählung der Voten aller lesenden Kinder zustande, die sich an der Ausschreibung des Preises beteiligten. Denn es ging Booktrust ja auch nicht lediglich darum, gute Bücher für Kinder zu prämieren; das auch; primär jedoch darum, Kinder zunächst einmal überhaupt zum Lesen zu veranlassen.

Für die Teilnahme an den Preisausschreibungen haben insgesamt mehr als eine Million Kinder mit ausgesuchten Schulklassen neue Kinderbücher gelesen. Das stellt schon in sich einen enormen Lese-Anschub dar. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass die prämierten Titel außerdem den tatsächlichen Lese-Interessen von Kindern entsprachen. Und mit dem Wegfall der sonst üblichen Formalien und Regularien nebst Filterungen kam es ferner dazu, dass der einem Autor mehrmals zuerkannt wurde. So erhielt etwa der Illustrator Chris Riddell ihn fünfmal, und J.K. Rowling dreimal nacheinander.

4. Ein teures Projekt, die ewige Frage: Wer soll das bezahlen?

Der Nestlé Children’s Book Award war also in jeder Hinsicht ein herausragender und wurde zu einem sehr bedeutenden Literaturpreis. Einen Preis auf solche Weise durchzuführen, erfordert allerdings enorme organisatorische Anstrengungen, einen gewaltigen Aufwand, zu dem es großer finanzieller Mittel bedarf. Und hier begann, hier lag das Problem.

Booktrust hatte die Idee. Booktrust entwickelte die zu ihrer Ausführung notwendigen Pläne. Selbst finanzieren und den Preis angemessen dotieren konnte Booktrust nicht. Dazu brauchte es Mäzene oder – modern gesagt – Sponsoren, und zwar sehr finanzkräftige Sponsoren.

5. Ein Dilemma aller Literaturpreise: Der Ehrgewinn der Ehrenden

Nun sind Literaturpreise immer schön und gut, ist Mäzenatentum stets etwas Feines. Es gibt jedoch, so idealistisch und selbstlos Mäzene oder Sponsoren sich auch gerieren mögen, keine öffentliche Ehrung – und ohne eine öffentlich-mediale Inszenierung war insbesondere dieser Award völlig undenkbar – die nicht zugleich eine Ehrung (oder einen Image-Nutzen) des Mäzens/Sponsors durch die Ehre und Geltung, den Rang oder den Ruhm des zu Ehrenden inbegriffe. Nicht zuletzt kommen bei Literaturpreisen ja allzu oft die immer gleichen Namen zum Zuge.

Mit Kinderbuch-Autoren war jedoch in den 1980er Jahren kaum ein kultureller Blumentopf zu gewinnen; sie waren so etwas wie Stiefmütterchen im Literaturbetrieb. Mit öffentlichen Mitteln konnte Booktrust folglich von vornherein nicht rechnen, da hätte das kulturelle Establishment Zeter und Mordio geschrieen. Und von der Wirtschaft bekam die Wohltätigkeitsinstitution einen Korb nach dem andern: Was hätten Unternehmen davon schon gehabt? Es war eine ziemlich hoffnungslose Situation.

6. Ein Sponsor wird zum ethischen Problem

Schließlich fand sich ein Unternehmen doch noch bereit, die Sponsorenrolle zu übernehmen. Es war ein großer internationaler Konzern, der seine Riesenumsätze (auch) mit Schokoladen, Süßigkeiten und Nahrungsmitteln für Babies machte. Und so, wie Booktrust verzweifelt einen Sponsor suchte, suchte der Konzern, nicht minder desperat und dringend, nach einer Möglichkeit, sein angekratztes Image aufzubessern: Nestlé, mit Stammsitz im schweizerischen Vevey. Der Nestlé-Konzern war in den 1980er Jahren heftigen Angriffen ausgesetzt, weil er sonst unverkäufliche qualitativ minderwertige Trockenmilch für Kleinkinder massenhaft in armen afrikanischen Entwicklungsländern absetzte.

Der von Booktrust genial ausgedachte und organisierte Kinderbuchpreis ist, weil er einem echten Bedürfnis entgegenkam, zu einem Mega-Erfolg geworden, obwohl das Nestlé-Engagement vom ersten Moment an unter Beschuss stand. Die Flak hat nie aufgehört zu feuern. Auch unter Autoren herrschte oft Unbehagen. Manche, herausragend Allan und Janet Ahlberg, haben aus ethischen Gründen den Preis einfach nicht angenommen, es aber, um dem Preis selbst, dessen Bedeutung außer Frage steht, nicht zu schaden, still und heimlich getan, wie es in solchen Fällen eigentlich üblich ist.

Sean Taylor, ein jüngst Geehrter, jedoch hat zwar den Preis akzeptiert, die Dotation aber während der Verleihungszeremonie abgelehnt und Nestlé selbst wegen seines fragwürdigen Marketings von Babynahrung öffentlich an den Pranger gestellt. So ist sein Sponsorentum für eine gute Sache für ihn zu einem Bumerang geworden. Sein Engagement hat sich für ihn nicht gelohnt; auch Booktrust wurde es zu heikel.

7. Die Folgen: Eine gute, notwendige, unersetzbare Institution wird abgeholzt

So haben nun Booktrust und Nestlé gemeinsam den Schluss-Strich gezogen, und der Nestlé Children’s Book Award existiert nicht mehr.

Da herrscht denn großer Jammer; denn an der Notwendigkeit und an den überaus positiven Auswirkungen dieses Preises besteht kein Zweifel.

Booktrust wurde und wird hinsichtlich der Wahl des Sponsors Nestlé Naivität vorgeworfen. Die Richtigkeit seiner Idee, seiner Planentwicklung, sein Mut zum Wagnis eines neuen Weges und seine organisatorische Leistung freilich wird nirgends in Frage gestellt. Sein Ansehen hat nicht gelitten.

Doch hatte, den Sponsor betreffend, Booktrust überhaupt eine Wahl? Man stand vor der schlichten Alternative, den Nestlé-Konzern, so wie er nun einmal war, als Sponsor zu akzeptieren oder die gute Sache einfach fallen zu lassen.

Booktrust hat sich dafür entschieden, die gute Sache in die Wege zu leiten.

Und war Booktrust wirklich politisch bzw. öffentlich-moralisch naiv, als er mit Nestlé einen nach Meinung vieler ethisch fragwürdigen Partner ins Boot nahm? Vielleicht. Andererseits: Booktrust hat die Ziele erreicht, die er mit seinen Plänen für diesen Kinderbuchpreis verfolgte, und sie haben sich als Ziele erwiesen, welche auch die Öffentlichkeit wollte. Für den Konzern hingegen sind die Hoffnungen, die er hier mit seinem finanziellen Engagement verband, keineswegs in Erfüllung gegangen. Er hat die Kultur mitnichten zu instrumentalisieren vermocht, um sein Image aufzubessern.

8. Sind Sponsoren austauschbar? Braucht es sie denn?

Es sind Stimmen laut geworden, die fordern oder wünschen, Booktrust möge an den von ihm entwickelten Kinderbuchpreis festhalten und einfach einen neuen Sponsor suchen. Doch so einfach geht es nicht, falls es überhaupt möglich wäre. Booktrust scheint jedenfalls entschlossen, seine Energien künftig in neue, andere Bahnen zur Leseförderung kleiner Kinder zu lenken. Und er hat seinen Partner gelobt für die langjährige gute Kooperation in der guten Sache, über das rein Finanzielle hinaus. Denn, welche Motive da auch immer mitgespielt haben mögen: Offenbar waren, im Unterschied zu Kollegen in anderen Großunternehmen, Nestlé-Manager von der Idee hinter diesem Literaturpreis überzeugt.

In Deutschland hat es, wenngleich in kleinerer Dimension, ein ähnliches Problem wie mit dem britischen Nestlé Childrens’ Book Award gegeben. Der Thüringer Kulturpreis wurde dem bedeutenden Erzähler Ingo Schulze zugesprochen, der den Preis annahm, das Preisgeld aber ablehnte bzw. an andere Schriftsteller (in finanzieller Not) weiterleiten wollte – aus Protest dagegen, dass nicht das Land Thüringen selbst den Preis finanzierte, sondern sich dafür von dem Energiekonzern E.on finanzieren ließ.

In seiner Preisrede wollte Ingo Schulze die Politik verpflichten, sich ihrer ureigenen Aufgabe zu stellen, die Urheber von Literatur zu fördern und nicht Wirtschaftsunternehmen die Chance zu geben, auf dem Umweg über Kultur Imagekosmetik und Reklame für sich selbst zu machen. Schulzes Forderung ist in sich auch nicht unproblematisch, vor allem jedoch unrealistisch.

Im Rahmen zunehmender sozialer Aufgaben und wachsender Finanzknappheit wird die Kultur immer mehr angewiesen sein auf privatwirtschaftliche Sponsorengelder, oder aus sich heraus bzw. von ihren Markterfolgen leben müssen, wobei letzteres völlig illusorisch ist. Dabei müssen Sponsoren ethisch keineswegs so heikel sein, wie Nestlé für einen Teil der britischen Öffentlichkeit war; und selbst wenn sie es sein sollten, könnten sie sich, wie der Nestlé Children’s Book Award gezeigt hat, hinsichtlich des Eigennutzens gründlich verrechnen.

Damit möchte ich keinem kulturellen Zynismus das Wort reden, wohl aber empfehlen, sich realistisch zu überlegen, was Sache ist und was man denn eigentlich will.

Für das Kinderbuch in Großbritannien kommt das Ende des Nestlé Children’s Book Award zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Die beachtlichen Lese- und Kaufimpulse, die er lange gab, fallen just ab diesem Jahr aus, in dem auch kein neuer Harry Potter mehr erscheint. Um ein schnödes Kalkül anzubringen: So wird sich dort der Umsatz mit Kinderbüchern wohl gleich um 50 oder mehr Euromillionen reduzieren. Weiterer Ärger noch: Wer wird nun neuen Autoren das notwendige öffentliche Gehör verschaffen, ohne das, über den NCBA, selbst eine J.K. Rowling nicht ihr weltweites Publikum gefunden hätte, von ihrem persönlichen Ruhm und Reichtum ganz zu schweigen?

Gerhard Beckmann freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de.

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