Beckmann kommtiert Warum Amazon gründlich falsch liegt, wenn es den Glauben verbreitet, mit dem E-Book habe das gedruckte Buch ausgedient

Amtliche Statistiken machen es unmissverständlich klar: In den Vereinigten Staaten werden zunehmend weniger Bücher gelesen. Gleichzeitig geht im amerikanischen Schulunterricht das Lesepensum allgemein horrend zurück.

Deutlich zutage treten freilich auch die Folgen, die inzwischen selbst in der Wirtschaft der USA die Alarmglocken schrillen lassen: In ihrem Personal sinkt rapide die Fähigkeit, Texte zu verstehen, deren Verständnis jedoch Voraussetzung ist zur Erledigung von Aufgaben und Arbeiten, die mit den Positionen der Angestellten unabdingbar verbunden sind.

Angesichts dieser Entwicklung hat die Chefredaktion der führenden, renommierten amerikanischen Wochenzeitschrift für Politik und Kultur The New Republic in der Ausgabe vom 10. Dezember einen aufsehenerregenden Leitartikel verfasst. Er setzt sich vor allem mit einer Verdrängungskampagne von Digitalisierungskonzernen gegen das traditionelle gedruckte Buch auseinander.

Anlass ist die neueste Version des E-book, das Amazon Kindle, und die Behauptung, dass damit endlich „die letzte Bastion des Analog“-Systems – so Amazon-Chef Jeff Bezos -, also das gute alte Buch, geschleift werden kann, weil es durch das technologische Neuprodukt ersetzbar wäre. Anlass ist der Anspruch von Bezos, wie von anderen IT-Lobbyisten und -Propagandisten, mit einer Digitalisierung von Content die kulturelle und gesellschaftliche Leistung bzw. Bedeutung des (angeblich nicht mehr zeitgemäßen) Gutenberg-Mediums und die Lesekultur für die Zukunft zu retten. Eben diesen Anspruch lassen die Leitartikler der New Republic nicht gelten.

Nun ist die New Republic alles andere als fortschrittsfeindlich. Sie steht, im Unterschied zu so manchen Hochkulturkreisen, nicht für eine Bunkermentalität. Sie kämpft nicht gegen das Amazon-Kindle oder welche neue Form des E-Book auch immer. Ebenso wenig verteufelt sie die Lektüre von digitalisiertem Content.

„Nein, das E-book bedeutet nicht das Ende der Zivilisation … Jede Art von Lesen ist besser als überhaupt nicht lesen.“ Man zweifelt keineswegs am Nutzen von E-book etc., insofern es eine zusätzliche Form von Lesen möglich macht. Nur: Dass das etwa das E-book als Instrument zur Rettung der Funktionen des gedruckten Buches, als Wahrer der Lesekultur mit ihrer ganzen gesellschaftlichen Bedeutung angepriesen wird, – das lässt man Bezos und Co. hier nicht durchgehen.

Und „es sind weder sentimentale Nostalgie noch kultureller Snobismus, wenn wir insistieren, dass die Erfahrung und das Erlebnis des Lesens auf einzigartige Weise dem gedruckten Buch geschuldet sind, seiner physischen Beschaffenheit und seiner Eigenart als Kultureigentum.“ Eine Lektüre beispielsweise von Kafkas Das Schloss per iPhone ist nicht dasselbe wie die Lektüre des Romans als gedrucktem Buch. „Es gibt unterschiedliche Arten von Lesen, und sie sind keineswegs gleichbedeutend. Es bedarf mehr als eines Aufleuchtens von Wörtern auf einem Bildschirm, um ein Buch mit seinen immanenten Gestaltungsformen und Sinnebenen auszumachen. Der Roman Bleak House von Charles Dickens ist eben kein e-mail, und Dostojewskis Schuld und Sühne liefert eben nicht Informationen… Wenn wir mit dem Gedanken spielen, das Buch sei ein veraltetes, überholtes Medium, so tun wir es auf die Gefahr hin, uns geistig zu beschädigen.“

Und solch geistige Beschädigung verursacht nicht bloß eine „kulturelle Verarmung“. Sie schränkt, schlimmer noch (siehe den zweiten Absatz eingangs), unsere allgemeine wie berufliche Funktionstüchtigkeit ein: Es geht also auch ums individuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche – die „Standort“-problematik – Überleben.

Bücher sind, wie die Wirklichkeiten, in denen Menschen sich zurechtfinden und behaupten müssen, komplex. Das Lesen von Büchern ist eine komplexe Fähig- und Tätigkeit.

Eine Reduktion solch komplexer Qualitäten und Betätigung zur bloßen eindimensionalen Aufnahme von Information mag für die spezifische Nutzung von digitalisiertem Content genügen. Okay.

Wenn aber die IT-Branche vorgibt, die Nutzung ihrer Produkte sei gleichwertig mit der traditionellen Kulturleistung des Lesens, so handelt es sich um nichts weiter als eine Kampagne zur Durchsetzung ihrer neuen Ware in einem Verdrängungswettbewerb gegen das Buch – also schlicht um Werbung, die sich um Tatbestände und Wahrheiten so wenig schert wie um bildungsmäßige, kulturelle und gesellschaftliche Konsequenzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Darauf kurz und bündig hingewiesen zu haben, ist ein hohes Verdienst der Zeitschrift The New Republic.

Gerhard Beckmann freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de

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