Heinz Zirk zum Abschied

Heinz Zirk

Im Berufsleben gehört es zu den hartnäckigsten Kränkungen, wenn langjährige Kollegen, denen man es nie und nimmer angesehen hat, plötzlich den Bettel hinschmeißen und mit heiterer Miene verschwinden. Als sei es, nach dreißigjähriger Zusammenarbeit, die man als „fruchtbare“ in Erinnerung behalten möchte, das einfachste von der Welt, den oder die Gefährten zurückzulassen. Der geht davon, macht sich einen heiteren Lenz, wir bleiben zurück. Ab heute schläft der bis elf Uhr, blättert im Schlafanzug die Zeitungen durch, stößt kurz auf, wenn er den Namen des Verlages liest, mit dem er sich dreißig Jahre lang identifiziert hatte, geht ins Kaffeehaus, spielt Boccia im Charlottenburger Schloßpark, legt sich unter einen Baum und starrt milde gesinnt in den Himmel – und so weiter und so fort -, während wir uns unsere Ärmelschoner über die Ellbogen ziehen und mit unstillbarer Wehmut diesem Menschen hinterherträumen, der bis eben noch neben einem gesessen ist. Wenn solche heiteren Abgänge in einem immer schnelleren Rhythmus stattfinden, ist dies ein untrügliches Zeichen für Alter. Nein, nicht die Abgänge, die Zurückgebliebenen müssen sich mit dem Greisentum abfinden. Die Abgänge, das sieht man an Jörg und an Armin, blühen, kaum haben sie die Last des Berufslebens, des unwürdigen Geldverdienens von den Schultern geworfen, auf – rosige Gesichtsfarbe, athletische Haltung, erotisches Flair: die Aura dessen, der es hinter sich hat und trotzdem am Leben geblieben ist. [mehr…]

Und wir?
Nun geht also auch Heinz.
Jörg. Armin. Heinz.
Was soll eigentlich noch passieren?

Wie viele Zigaretten – um von etwas Heiterem zu reden – hat Heinz im Laufe des ersten Teils seines Lebens durch seine Lunge gezogen? Ich komme, bei vorsichtiger Rechnung und unter Abzug des von mir bei jeder Gelegenheit geschnorrten Kontingents auf rund eine halbe Million, nicht gerechnet die Zigarillos. Er ist den Gauloises bleue treu geblieben, durch dick und dünn und alle Täler des Hustens, und wenn die grande nation noch einen Funken Ehre im Leibe hätte, müßte sie ihn für treue Dienste zum Officier des Arts et des Cigarettes machen. Keiner hat sich so wenig anfechten lassen von den Gesundheitsaposteln und Pfeifenrauchern wie er. Und während eine Regierung nach der anderen vergeblich an einer Gesundheitsreform gearbeitet hat, um sich das ewige Leben unter Frau Ministerin Schmidt zu schenken, hat Heinz seelenruhig seine Zigaretten geraucht, um ein traditionsreiches europäisches Erbe fortzusetzen, das fester mit unserer Geschichte verklammert ist als wenig anderes. Die europäische Zivilisationsgeschichte ist eine des Rauches, und wer den Rauch verbieten will, macht sich des mutwilligen Geschichtsbruches schuldig. Man kann Heinz nur dankbar dafür sein, daß er seinen pädagogischen Eros während unserer Vertretersitzungen hat spielen lassen, so daß er auch eine ganze Reihe der jüngeren Kolleginnen zu erstklassigen Raucherinnen ausbilden konnte.

Aber nicht nur im hartnäckigen Rauchen zeigt sich Heinzens europäisches Erbe, sondern auch im Trinken. Wäre er uns nicht mit hellem Herzen vorausgegangen, wir hätten nach all den Kaffees und Wassern und Säften tagsüber, nach all den Bieren und Weinen am Abend nicht mehr so selbstsicher und europäisch gefaßt zu der großen Grappaflasche gegriffen, deren Inhalt sich vor Heinzens Geschmack und Verlangen im Nu in jenen Geist auflöst, dem er sein Entstehen verdankt. Selbst in den armen Jahren hat Heinz darauf bestanden, daß der Schnaps am Ende des Essens sein edles Werk des restlosen Verbrennens in Angriff nehmen müsse, und selbstverständlich hat er sich durchgesetzt.

Damit wäre ich beim – heiklen – dritten der Gründe, warum es mir so schwerfällt, Heinz ziehen zu lassen: seine – instinktive oder durch Wissen untermauerte – Durchsetzungskraft. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, ob Heinz all die Bücher gelesen hat, die er angeblich gelesen hat, aber er hat sie mit Sicherheit nicht alle vor der Vertretersitzung gelesen, auf der er mit jener aus den Tiefen des Schlafwandlertums emporsteigenden Bestimmtheit nicht nur behauptet, sie gelesen zu haben, sondern auch noch voraussagt, wie ihr Schicksal auf den Tischen der Buchhändler aussehen wird und warum. Dabei verdankt sich seine Durchsetzungskraft ja keineswegs der besserwisserischen Attitüde, nach der eine Mark rauf oder runter den Erfolg eines Buches bestimmen könne. Und Heinz kennt auch nicht den ätzenden Sadismus desjenigen, der, weil nicht auf seinen Rat gehört wird, den Schiffbruch und Untergang eines Buches voraussagt. Und sollte das Buch gegen jede Vernunft doch ein Erfolg werden, hat er ihn nicht selbst-verständlich vorausgesagt. Der vornehme Mann streicht ein, genießt und hält die Klappe. Er hat zu viele Bücher scheitern sehen. Er kennt, als Berliner, zu viele Schriftsteller, die nicht von ihren Büchern leben können. Er weiß kein wohlfeiles Rezept, und seine manchmal ruppige Bescheidenheit ist der verkleidete Ratschlag, die Kirche dort zu lassen, wo sie hingehört: im Dorf.

Kurz: Wenn Heinz sagt, laßt den Umschlag wie er ist, es kommt sowieso nicht drauf an, dann weiß man, das Buch ist schon tot, und die Überlegung, was man dem Toten noch anziehen solle, ist nur der Pietät geschuldet, aber die Attraktivität des Toten bleibt davon unberührt.

Aufatmen kann man, wenn Heinz, einen Umschlag betrachtend, nichts sagt. Dann ist er wie das stumme Kind, das plötzlich an seinem zwölften Geburtstag Scheiße sagt, und auf die Frage, warum es so lange geschwiegen habe, antwortet: Bisher war ja alles in Ordnung.

Woher kommt also seine Durchsetzungskraft? Diese pokerfacemäßige Sicherheit, mit der er alle Regimes und Regierungen überlebt hat, ohne daß man ihn für einen anpasserischen Fouché hätte halten wollen; mit der er die Mao-Bibel und die Schriften der Edition Voltaire, die hardcore-Hämmer der Olympia-Press und etlicher K-Verlage, Bücher von Wagenbach und Hanser, und dazu noch, als sei es ihm an der Wiege gesungen worden, bißfeste Babybücher der Pixi-Reihe und anderer Schweinkram – und alles eben mit einer Selbstverständlichkeit, daß einem, überblickt man sein langes und im Dienste des deutschen Buchhandels auch aufopferndes Leben, ganz verrückt zumute werden möchte. Wie also macht er das? Entweder wie der Bibliothekar der Staatsbibliothek im Mann ohne Eigenschaften, der, um eben nicht verrückt zu werden, darauf pocht, nie ein Buch gelesen zu haben, oder Heinz hat sie, was man sich gar nicht vorstellen mag, tatsächlich alle gelesen: da steht dann Pixi neben Mao, Sofies Welt neben der Welt von Joseph und seinen Brüdern, Olympias Schweinkram neben den Erlesenheiten von Vasari, und da Heinz, nach meiner Vorstellung, keineswegs schnell liest, fressend und keuchend und gargantuesk, sondern, im Ohrensessel, langsam und bedächtig und gewissermaßen rotweinmäßig, braucht er für all den Wahnsinn, der aus ein paar Buchstaben gemacht ist und die Leute nach wie vor zur Verzweiflung bringt, auch noch Zeit.

Durchsetzungskraft aus Kenntnis, ist es das? Während die Kenntnis der meisten (ich schließe mich selbst ein, natürlich) aus lauter schönen, freien Lücken besteht, ist seine geschlossen. Macht ihn das so unwiderstehlich? Sieht man ihm nicht häufig förmlich an, wie er denkt, mein Gott, sind das alles Narren, um es milde auszudrücken! Warum fragen sie mich nicht? Und da die einzige Meinung, an der ihm im Verlauf seines Lebens wirklich gelegen war, die eigene war – die von seiner Frau ausgenommen, natürlich –, hat er dieses giocondahafte mild-müde-abgeklärte-marc-aurel-mäßige Lächeln im Gesicht, das auch durch den sonderbaren Bart nichts von seiner abgrundtiefen wortlosen Redseligkeit einbüßt. (In Klammern sei das Thema einer wirklich spannenden Hausarbeit für Kulturwirte verraten: Die Rolle der abnehmenden Behaarung resp. des wuchernden Bartwuchses bei deutschen Verlagsvertretern, am Beispiel der Herren Jörg Wallenstein, Armin Abmeier und Heinz Zirk im Vergleich zu den Herren Dirk Drews und Jochen Thomas. Ein Beitrag zur Generationendebatte.)

Ach, Heinz: Nun also auch Du! Das Leben eines Verlagsvertreters steht, sehr frei nach Polgar, unter dem Pendel einer zweifachen Angst: der einen Angst, daß es enden, und der anderen Angst, daß es dauern könnte. Also lassen wir meine Rede ausklingen. Aber es bleibt dabei: Es ist eine bittere Zumutung an die Phantasie, sich ein Berufsleben ohne Dich vorzustellen.

Noch schlimmer allerdings wird die Angst, wenn die Reden zum Abschied nicht enden wollen.

Ich danke Dir, lieber Heinz. Im Namen des Verlags, im Namen der Geschäftsführung, im eigenen.

Michael Krüger
(Abschied Heinz Zirk [mehr…] — 1. Juni 2007 in Berlin

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