Die Rechte-Kolumne Rainer Dresen: Kommentar zum Aufruf „Ruin der Literatur“

In Kürze verhandelt das Landgericht München wieder einmal über das Buch „Esra“ von Maxim Biller. Bekanntlich wurde das Werk von allen bisher befassten Gerichten einschließlich des Bundesgerichtshofs verboten. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat hiergegen Verfassungsbeschwerde [mehr…] eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.

Nun haben die beiden Frauen, die Unterlassungsverfügungen gegen „Esra“ durchsetzen konnten, auch noch eine Schmerzensgeldklage gegen Autor und Verlag eingereicht und verlangen von beiden gemeinschaftlich 100.000 Euro. [mehr…]

Als öffentliche Reaktion darauf wurde die Aktion gestartet Über 100 Namen gegen 100.000 Euro. [mehr…] Bekannte Kulturschaffende wie Jörg Bong, Henryk M. Broder, Helmut Dietl, Wolfgang Ferchl, Michel Friedman, Günter Grass, Axel Hacke, Nikolaus Hansen, Elfriede Jelinek, Michael Jürgs, Wladimir Kaminer, Daniel Keel, Daniel Kehlmann, Michael Krüger, Bernd F. Lunkewitz, Georg M. Oswald, Fritz J. Raddatz, Elisabeth Ruge, Uwe Timm, Joachim Unseld und Günter Wallraff haben einen Aufruf unterzeichnet und weisen darauf hin:

„Es wäre der Ruin der Literatur, es wäre der Bankrott der Kunstfreiheit, wenn künftig jeder, der sich in einem Werk der Fiktion wieder zu erkennen glaubte, auf Schadensersatz klagte. Statt der Lektoren wären die Anwälte die ersten Gegenleser, statt um Qualität ginge es nur noch um Unangreifbarkeit. Wer ein Buch veröffentlichte, riskierte den Ruin. Und die Literatur, die wäre der Schädling, welchen man bekämpfen muss. Unter solchen Bedingungen hätten weder ‚Die Leiden des jungen Werthers’ noch die ‚Buddenbrooks’ erscheinen können. Soweit darf es nicht kommen.“

Soweit wird es voraussichtlich auch nicht kommen. Die Gerichte, so erschreckend freigiebig sie mittlerweile einzelne Passagen aus Büchern und damit meist rein faktisch auch die kompletten Bücher verbieten, da sie ohne großes Empfinden für die Belange der Buchverlage stereotyp nach den Grundsätzen der sich stets verschärfenden Zeitungs- und Zeitschriftenrechtsprechung agieren, scheuen üblicherweise vor unangemessenen Schmerzensgeldurteilen zurück. So wurden z.B die Millionenklage eines Bohlen-Ex-Sangeskollegen und die 50.000 Euro Schmerzensgeldklage einer Bohlen-Ex-Geliebten vollständig abgelehnt, obwohl die Kläger zuvor mit sämtlichen Unterlassungsbegehren erfolgreich waren.

Der Grund hierfür liegt darin, dass für Bücherverbote bereits „einfache“ Persönlichkeitsrechtsverletzungen genügen, vor der Verurteilung zu Schmerzensgeldzahlungen jedoch eine „gravierende“ Persönlichkeitsrechtsverletzung nachzuweisen ist. Daran fehlt es häufig, und daran dürfte es auch in diesem Falle fehlen, da Autor und Verlag sich im Schutze der Kunstfreiheit befindlich wähnten und dieser Umstand vor Gericht eine große Bedeutung haben dürfte. Denn dieses subjektive Bewusstsein, sich in einer jahrhundertealten Tradition zu befinden, dürfte das für eine Schmerzensgeldverurteilung erforderliche „schwere Verschulden“ von Verlag und Autor ausscheiden lassen.

Allerdings weiß man vor Gericht nie, wieviel Sachverstand der zur Entscheidung berufenen Personen vorausgesetzt werden kann, weshalb es ratsam ist, aus dem Verfahren „Esra“ und dem in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder zu kurz kommenden Verfahren gegen Nikolai Alban Herbsts „Meere“ seine Schlussfolgerungen zu ziehen. Und das bedeutet leider genau das, was die Unterzeichner des „Esra“-Aufrufs als „Bankrott der Kunstfreiheit“ bezeichnen, nämlich, dass „statt der Lektoren die Anwälte die ersten Gegenleser wären, es statt um Qualität nur noch um Unangreifbarkeit“ ginge.

Genau das ist mittlerweile längst Verlagsalltag geworden. Kaum noch ein Sachbuch und kaum noch ein biographisch gefärbter Roman werden ohne vorhergehende juristische Prüfung veröffentlicht; Lektoren lesen oft nur noch das, was die Juristen bereits zuvor geprüft und als unbedenklich freigegeben haben. Bei Romanen sind die Eingriffe vermeintlich kleinerer, künstlerisch gleichwohl erheblicher Natur: Da verändern sich auf anwaltlichen Rat hin Alter und Wohnort, Automarke und Lieblingsspeise und ab und zu auch mal die Haarfarbe oder das Geschlecht der Protagonisten, um die vor Gericht so fatale „Erkennbarkeit“ und damit Klagemöglichkeiten auszuschalten.

Bei Sachbüchern, und das ist ein bis dato nicht zu Aufrufen führendes, gleichwohl virulentes und kaum mehr kalkulierbares Risiko der Buchverlage, stellt bereits jede unwahre Tatsachenbehauptung eine Persönlichkeitsrechtsverletzung dar, unabhängig davon, ob der Betroffene durch die unwahre Tatsache überhaupt in irgendwelchen schützenswert anmutenden Rechtspositionen beeinträchtigt wurde.

Ein Sachbuch aber, das in jedem einzelnen Punkt nachweisbar wahre Tatsachen enthält, muss erst noch geschrieben werden. Mal verlässt sich der Buchautor auf behördliche Urkunden, die unerkannt falsch sind, mal zitiert er aus bis dato nicht angegriffenen geschichtlichen Standardwerken, mal bedient er sich aus unwidersprochen gebliebenen, auch nur in kleinsten Details unwahren Zeitungsberichten, die aber – was häufig vorkommt und eigentlich die erfreulich höhere Wertigkeit des Mediums Buchs zeigt – in Buchform nicht toleriert werden.

Deshalb kommen mittlerweile viele durchaus seriöse, aber eben kritische Sachbücher über das juristische Prüfungsstadium nicht mehr hinaus. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber noch rechtzeitig erkennen wird, dass eine Änderung insbesondere der Rechtsprechung zu unwahren Tatsachenbehauptungen für viele Sachbuchverlage eine das wirtschaftliche Überleben sichernde Maßnahme wäre.

Rainer Dresen arbeitet als Rechtsanwalt und Verlagsjustitiar in München auf dem Gebiet des Urheber- und Medienrechts. Mail: Dresen-Kolumne@freenet.de

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