Sind Sperrfristen bindend? Die Frage wird jetzt zum ersten Mal in einem mutigen Musterprozess geklärt

Der Kampf der Zeitungen um Leser und Auflagen wird, wie schon in meiner vorhergehenden Kolumne skizziert [mehr…] rauer und rüder. Dafür werden – zu ihrem eigenen Schaden wie dem ihrer Verlage – auch Star-Schriftsteller missbraucht, die in Großbritannien einen hohen Öffentlichkeitswert haben. In London hat es da nun endlich mal geknallt. Eine bedeutende Tageszeitung, die – um der Konkurrenz die Schau zu stellen – die Sperrfrist für ein großes Autoren-Interview brach – wird vom Verlag des betroffenen Autors verklagt.

Der Fall erregt international Aufsehen. Denn für die Buchbranche wird dieses Verfahren zu einem veritablen Musterprozess: Ob Sperrfristen wirklich bindend sind oder bloß eine mehr oder weniger ehrwürdige Konvention darstellen – das ist nämlich bisher noch in keinem Land juristisch geklärt worden.

Der Horizont des Vorfalls

Einen perfekten Marketingplan hatte der Londoner Verlag Jonathan Cape – Teil der britischen Random House-Gruppe – für Ian McEwans neuen Roman Saturday* ausgetüftelt. Das Buch war – literarisch wie kommerziell – die wichtigste Novität seiner Erstauslieferung in der neuen Saison. Angekündigt war sie für Ende Januar.

Ian McEwan zählt zu den bedeutendsten wie erfolgreichsten Schriftstellern Großbritanniens. Um einen Autor wie ihn unter heutigen Marktverhältnissen auf Erfolgskurs zu halten, braucht es heute jedoch mehr Marketing als je zuvor. Es geben ja – vor allem dort wie in den USA – längst nicht mehr klassische unabhängige Sortimentsbuchhändler und ihre gebildete, treue Klientel den Ausschlag, sondern Großfilialisten, Supermärkte und deren unbeständige, auf mass market-Kauf- und Lesekicks spontan reagierende Laufkundschaft.

In diesem Zusammenhang ist die Pressearbeit zu einem zentralen Element des modernen Verlagsmarketings geworden– insbesondere für das Erringen hoher Auflagen steigernder Bestsellerplätze. Dazu gehört auch (nicht bloß im angelsächsischen Sprachraum), auf einen breiten, massierten ersten großen Medienanschub von Titeln hinzuwirken. Bewerkstelligen lässt sich das – für wenige, ganz bestimmte Themen und Autoren, zu denen eben etwa Ian McEwan zählt – in der Regel nur im unmittelbaren Zeitkreis des Erscheinungstermins.

Das Problem

Klappen kann das alles aber nur unter zwei Bedingungen. Einerseits muss der Verlag den Medien (meist schon Wochen) vor dem Publikationsdatum einen Umbruch des fraglichen Werks zur Verfügung stellen bzw. einen Interviewtermin mit dem Autor ermöglichen; andererseits müssen die Medien die daran gekoppelte, vom Verlag vorgegebene Sperrfrist bis zum Erscheinungstag des Titels einhalten.

Der Verlag Jonathan Cape hat sich in diesem für ihn so wichtigen Fall allerdings nicht, wie man es früher wahrscheinlich getan hätte, einfach auf Treu und Glauben verlassen. Er hat von allen – ausgewählten – Zeitungen und Medien, denen er ein Interview mit Ian McEwan einräumte, eine schriftliche Vereinbarung unterzeichnen lassen, in der sie sich zur Einhaltung der Sperrfrist verpflichteten, d.h. er hat eine Vertragssituation geschaffen.

Der Chefredakteur des Evening Standard hat sich dennoch – obwohl er damit also einen Vertragsbruch beging – nicht an die Sperrfrist gehalten und sein Interview mit Ian McEwan unerlaubt eine Woche früher veröffentlicht – um eine Woche vor der Konkurrenz Schlagzeilen zu machen und beim Publikum Auflagenpunkte zu gewinnen.

Die Folgen

Der Verlag hat sich daraufhin genötigt gesehen, auch den übrigen Zeitungen und Medien die frühere Publikation ihrer aktuellen Autoren-Interviews und –Porträts, Buchreportagen und Rezensionen freizugeben.

Weil die von ihm konzertiert geplante Medienkampagne nun aber ein integraler Bestandteil des Marketings war, blieb dem Verlag danach weiter nichts anderes übrig, als auch alle vertrieblichen und werblichen Maßnahmen entsprechend früher durchzuführen, d.h. vor allem die Auslieferung des Titels um eine Woche vorzuziehen.

Solches Umplanen bedingt allerdings erhebliche (nicht eingeplante) Mehrkosten. Und darum verklagt, wie der Chefredakteur des britischen Branchenorgans The Bookseller in seiner Kolumne in der Londoner Tageszeitung The Guardian berichtet, der mutige Jonathan Cape-Verleger Dan Franklin den Evening Standard wegen Vertragsbruches auch auf Schadenersatz.

Das Prinzip

Medienchefs und –redakteure vertreten gern die Auffassung, ihre Informationsanliegen und –ansprüche rangierten „über alles in der Welt“.

Das ist, so pauschal, auch nicht mehr als das hohlste metaphysische Dogma.

Wenn sie, wie hier, bloß in Verfolgung rein wirtschaftlicher Eigeninteressen vorpreschen, müssten sie eigentlich haftbar gemacht werden für den Schaden, den sie Anderen – bewusst – zufügen.

Der Evening Standard hat einen Vertrag unterzeichnet, um überhaupt an ein für ihn offenbar sehr wichtiges Autoreninterview zu kommen. Ohne die Unterschrift unter einen solchen Vertrag wäre er leer ausgegangen, was er sich – doch wohl nach eigener Überzeugung – nicht glaubte leisten zu können, weil es ihn Auflage gekostet hätte.

Er hat –doch wohl ebenso bewusst – einen Vertrag gebrochen, um über die journalistische Konkurrenz zu triumphieren.

Warum sollten Buchverlage – trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gegen Missbrauch und Wortbruch – solch ein klassisches Verhalten unlauteren Wettbewerbs auch noch finanzieren müssen?

Warum sollten sie es, in falsch verstandener Abhängigkeit ihrer Bucherfolge von den Medien, dulden?

* Auf Deutsch wird Ian McEwans neuer Roman im Herbst bei Diogenes erscheinen.

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